Kampf in der Kleinstadt vor 1945: Wie Blomberg von Evakuierten fast überrannt wird

Blomberg . Als die Bombenhagel über Großstädte im Ruhrgebiet und im Rheinland niedergingen, war es im lippischen Südosten vergleichsweise friedlich. Zumindest äußerlich. Doch in den Seelen der Menschen sah es anders aus: &bdquo;In Blomberg hatte fast jede zweite Familie mindestens ein Mitglied durch den Krieg verloren“, erzählt Blombergs Stadtarchivar Dieter Zoremba. Und plötzlich brach über die scheinbare Kleinstadtidylle zusätzlich zum Krieg etwas herein, was unter nahezu allen Dächern nicht nur in Blomberg das Leben zusätzlich verändern sollte: Die Flut der Evakuierten.

Massenhafter Zulauf &bdquo;Man muss sich das mal vorstellen. Blomberg hatte um 1943 ungefähr 5000 Einwohner“, sagt der Historiker. Dazu kamen schon bereits ab 1943 traumatisierte Menschen aus dem Rheinland. Im Januar 1944 allein waren es 830, und jeden Monat wuchs die Zahl um Hunderte, sodass am 31. März 1945 3098 Ausgebombte und Evakuierte etwa 5180 Einheimischen gegenüber standen.

Doch wo sollten die alle hin? Wie hat sich der Alltag gestaltet? – &bdquo;Wir haben leider nur sehr wenige Aufzeichnungen darüber im Stadtarchiv“, bedauert Dieter Zoremba, &bdquo;geschweige denn Fotos“. Ein Blick in die amtlichen Vorgänge hilft aber, zu verstehen, was zu dieser Zeit in der Nelkenstadt los war.

Der Amtsapparat Bereits am 14. April 1943 schreibt die lippische NSDAP-Kreisleitung des Amtes für Volkswohlfahrt an alle Ortsgruppenleiter der NS-Volkswohlfahrt: &bdquo;Der Kreis Lippe soll nach Möglichkeit freigehalten werden für die Patenstädte Gelsenkirchen und Recklinghausen. Bombengeschädigte aus anderen Gebieten, die bei Verwandten unterkommen, können in Lippe Unterkunft finden.“ Die Bürgermeister müssen sich kümmern. Im Juni 1943 leitet der Landrat ein Schreiben der Landesregierung Lippe weiter: &bdquo;...müssen für die Bombengeschädigten in den Aufnahmegebieten erheblich mehr Unterkünfte freigemacht werden, als bisher vorgesehen war. &bdquo;Zu diesem Zwecke müssen grundsätzlich jedes freie Bett und sonstige Ruhelager (Chaiselongue und dergleichen) genutzt werden. Die damit verbundenen Unbequemlichkeiten müssen in Kauf genommen werden, sie bedeuten nichts gegen die Lage derjenigen Volksgenossen, die durch die Bombenangriffe alles verloren haben.“ Die Bürgermeister müssen schnellstens sämtliche verfügbaren Unterkunftsmöglichkeiten erfassen.

Beschlagnahmung Zwei Monate später wird der Ton dringlicher, der NSDAP-Kreisleiter schreibt, man rechne mit 15.000 Evakuierten. Er habe den Eindruck, &bdquo;dass nicht in allen Orten die notwendige Sorgfalt und auch Härte zwecks Bereitstellung von Quartieren angewandt worden ist.“ Irgendwelche &bdquo;unberechtigten Rücksichtnahmen“ seien nun fehl am Platze.

Versorgung Worauf konnte man in diesen schweren Zeiten wohl am ehesten verzichten? – Auf größere Säle. Und so findet sich in den Akten auch ein Vorgang über die Bereitstellung des großen Saales im Kaiserhof. Er sollte offensichtlich als Anlaufstelle mit Verpflegung dienen, und es gibt 1943 einen langwierigen Schriftwechsel darüber, ob denn die Firma Stumpf wohl einen 100 Liter fassenden Kessel zum Kochen bereitstellen könne. Am Ende lieferte die Firma zunächst einen 125 Liter fassenden Kessel ohne Einsatz, um ihn später gegen einen 100-Liter-Kessel mit Kocheinsatz für die Suppe auszutauschen. Doch Stumpf musste ein paar Monate auf das Geld warten, erst im Mai 1944 bekommt das Geschäft das Geld angewiesen. Alles fein säuberlich notiert und abgestempelt. Was die Flüchtlinge allerdings aus dem Kessel zu essen bekamen, ist nicht vermerkt.

Für all diejenigen, die privat zugewiesen wurden, müssen die Gastgeber einiges rausrücken, beispielsweise Pfannen oder Töpfe, Besteck und Geschirr. Kleidung erhalten die Flüchtlinge aber von der NS-Volksfürsorge. Es ist genau vorgegeben, auf was jene Anspruch hatten, die nur mit ihren Kleidern auf dem Leib vor den Bomben geflohen sind. So erhalten Männer über 15 Jahre einen Hut oder Mütze, einen Wintermantel, einen Anzug, zwei Taghemden, ein Unterhemd und immerhin zwei Unterhosen, zwei Kragen, eine Krawatte, drei Taschentücher, drei Paar Socken Hosenträger, Sockenhalter und immerhin Nähzeug für 30 Pfennige.

Einquartierungen Bürgermeister Dr. Hermann Bargob steht massiv unter Druck, je mehr Menschen nach Blomberg kommen. Denn die Einheimischen sind keineswegs scharf darauf, dass ihnen Fremde in die Wohnungen gesetzt werden. Und es wird eng. Sehr eng, auch schon im Jahr 1943 häufen sich die Eingaben ans Rathaus. Unzählige Schriftwechsel weisen die Akten für &bdquo;Luftkriegsbetroffene Personen, Evakuierte und Angelegenheiten“ auf.

Die Hitlerjugend . Selbst den eigenen Parteinachwuchs schonen die Nazis nicht. Mit Anweisung vom 21. Juni 1943 soll die Hitlerjugend ihr Büro räumen, mit dem sie in einer Drei-Zimmer-Wohnung in der Petersilienstraße 26 residiert hatte, für 25 Reichsmark im Monat. Die HJ befolgt den Befehl, nicht ohne einen Schaden im Treppenhaus zu verursachen. Den Schaden an der Treppe und der Treppenhauswand beseitigt das Bauamt auf Kosten der Stadt.

Der Hausbesitzer. Diese Gelegenheit benutzt allerdings der pfiffige Vermieter, ein Telefonbauhandwerker, der flugs mit seiner Gattin von seiner eigenen Zwei-Zimmer-Wohnung in die größere Wohnung umzieht. Doch in einer Kleinstadt bleibt nichts verborgen: Innerhalb eines Tages muss er im August 1943 wieder zurückziehen in die kleinere Wohnung, und ihm wird Strafe angedroht, weil er eigenmächtig den Umzug entschieden hatte.

Die Sparkassensekretärin . Auch innerhalb Lippes gibt es Wohnungswechsel, und das schon in der ohnehin angespannten Situation. So schreibt ein Fräulein Scholl aus Schieder an den Bürgermeister. Sie sei Erste Hauptsekretärin der Hauptzweigstelle Schieder bei der Sparkasse Detmold. Weil die aber nun an die Kreissparkasse Detmold überginge, müsse sie nach Blomberg wechseln und erbitte eine Wohnung. Aus Bürgermeistersicht ist sie damit eine &bdquo;bevorrechtigte Volksgenossin“, Fräulein Scholl bekommt eine Wohnung in Blomberg.

Die Nichte. Andere lebten sehr viel unkomfortabler. Eine Frau schreibt, sie sei mit ihren beiden Kindern (8 und 10) bei ihrer Tante im Langen Steinweg 3 untergekommen, wo auch schon die Schwiegertochter und deren zwei Kinder sowie demnächst auch noch die Tochter mit ihrem frisch Angetrauten Unterschlupf gefunden hätten. &bdquo;Das Pflichtjahrmädchen muss schon im Badezimmer schlafen“, man kann sich vorstellen, wie eng es zugegangen sein muss, wenn nur fünf Zimmer zur Verfügung standen.

Die Phönizianerin. Andere sind da deutlich anspruchsvoller, und mit denen hat der Bürgermeister seine liebe Mühe und Not. Nach Blomberg kommt Ende Mai eine Anna Grabauskas mit ihren Töchtern. Die eine zieht nach Detmold, die andere, Anni, bleibt bei ihr. Die Ankömmlinge müssen sich eigentlich binnen drei Tagen anmelden. Anni hat das anscheinend nicht nötig, sie sei ja nur zu Besuch – was gelogen ist. &bdquo;Das ganze Benehmen der Grabauskas ist sehr herausfordernd.“ Wegen des Meldeversäumnisses wird sie zu 10 Reichsmark Strafe verdonnert. Die Mutter meldet sich auch zu spät an, der Bürgermeister sieht hier von einer Strafe ab, &bdquo;da sie durch die Bestrafung der Tochter gewarnt ist.“

Das anspruchsvolle Frauenduo ist unzufrieden. Die Mutter ist bei der &bdquo;Firma Phönix Elektrizitätsgesellschaft H. Knümann u. Co aus Essen“, so schreibt Bargob, &bdquo;die dort bombengeschädigt ist und darauf ihren Betrieb nach Blomberg verlegt hat. Ich habe dem Geschäftsführer der Firma seinerzeit ausdrücklich gesagt, dass die Unterbringung von Personal in Blomberg schwierig sei, worauf er mir antwortete, dass das Personal nicht zahlreich sei und dass die Unterbringung schon geregelt würde. Die Unterbringung mit voller Pension ist dann seitens der Firma durch das Hotel Deutsches Haus in Blomberg mit mehreren von diesem gemieteten Zimmern des Hauses Neue Torstraße 15 erfolgt.“

Dort sind auch die beiden Damen Grabauskas untergebracht, wie sich herausstellt, schlafen sie in dem einen Zimmer, in dem anderen wohnen sie, Kochgelegenheit inklusive. Gleichwohl beantragt die renitente jüngere Essenerin beim Bürgermeister eine Wohnung in der Stadtmitte. Sie wendet sich an den Wehrmachtfürsorgeroffizier in Detmold. Schließlich bietet man ihr eine Zweizimmerwohnung an. &bdquo;Diese lehnte Frau Grabauskas ab, sie benötige eine Dreizimmerwohnung in der Stadtmitte.“ Dr. Bargob ist entnervt: &bdquo;Unter diesen Umständen wird es wohl kaum möglich sein, der Beschwerdeführerin eine genehme Wohnung in Blomberg zu beschaffen.“

Doch die setzt noch eins drauf: und schreibt am 27. Oktober 1943 einen Brief an Reichsminister Dr. Joseph Goebbels. &bdquo;Die ganze Behandlung des Bürgermeisters den Evakuierten und Bombengeschädigten gegenüber ist rein unerlaubt“, schreibt sie. Sie wisse sich keinen anderen Rat und bitte den Herrn Minister um &bdquo;dringende Erledigung meiner Sache.“ Was allerdings daraus wurde, ist nicht überliefert, auch nicht, wo Anni und Anna Grabauskas abgeblieben sind.

Spannungen Während der Bürgermeister immer wieder vergeblich an die Obrigkeit schreibt, darauf hinweist, dass die Quote doch längst erfüllt sei, bekommen immer mehr Flüchtlinge eine Absage, wie ein Musiklehrer, der am 24. Februar ’43 um eine Wohnung bittet. Gleichzeitig insistieren Wohnungsbesitzer: Ein Mitarbeiter der Blomberger Holzindustrie beherbergt einen Monteur und sperrt sich mithilfe der Geschäftsführung gegen weitere Einquartierungen. Bargob schreibt, ihm sei zu Ohren gekommen, dass der Mitarbeiter schon mal eine Frau mit zwei Kindern und ein weiteres Ehepaar untergebracht habe, dann werde ja wohl &bdquo;eine Frau mit Kind zusätzlich zu dem Monteur kein Problem darstellen.“

Die Möbelfabrik Stöss möchte derweil ihre Wohnung für den Werksleiter frei halten, den sie einzustellen hofft – das lässt die Obrigkeit durchgehen.

Zwischen den Zeilen ist zu lesen, wie die Spannungen zunehmen, der Bürgermeister immer mehr Schwierigkeiten hat, allen Anforderungen gerecht zu werden. Immerhin sind die meisten Zugewiesenen Menschen, die vom Krieg traumatisiert sind, all ihr Hab und Gut in Schutt und Asche sehen und plötzlich fremden Leuten auf die Pelle rücken müssen. Und auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren dürfte sich die Lage nicht entspannt haben, im Gegenteil: &bdquo;Dann kamen auch noch die displaced persons dazu“, sagt Dieter Zoremba. Doch das ist eine andere Geschichte. Die LZ wird in Zusammenarbeit mit Historiker Dieter Zoremba den nächsten Monaten eine lockere Artikelreihe darüber bringen, wie es in Blomberg ab 1945 nach dem Ende von Krieg und Gewaltherrschaft aussah.

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