Detmold. Einmal in der Woche proben Dr. Patrick Dißmann, Chefarzt der zentralen Notaufnahme im Klinikum Lippe, und sein Team den „Turmbau zu Babel“. Dann rüsten sich Ärzte, Assistenten, Röntgenspezialisten und Verwaltungskräfte für eine Mammut-Aufgabe: Bis zu 280 Flüchtlinge werden innerhalb von drei Stunden untersucht.
„Kein Flüchtling verlässt die Erstaufnahmeeinrichtungen ohne eine Erstuntersuchung“, sagt Dr. Alexander Graudenz, Leiter der Verwaltungsstelle Detmold der Ärztekammer. Das ist nicht nur für die Flüchtlinge selbst wichtig. Graudenz sagt auch klar: „Für die Bevölkerung geht von den Erstaufnahmeeinrichtungen keine medizinische Gefahr aus.“ In Ostwestfalen und darüber hinaus ist Lippe in dieser Beziehung sehr weit vorn. Das Ministerium habe jedenfalls bei einer Anfrage sehr positiv auf das lippische Modell reagiert, sagt Hartmut Zimmer, Leiter des lippischen Gesundheitsamtes.
Dass in Lippe alle Asylbewerber untersucht werden, ist einer ausgefeilten Logistik zu verdanken, die das Klinikum auf die Beine gestellt habe, unterstreicht Graudenz. Gemeint ist eben der dißmannsche „Turmbau zu Babel“. Der Chefarzt nutzt das Bild, um die Schwierigkeiten zu verdeutlichen: Sprachengewirr, Koordination und Organisation. Aber: „Wir werden immer besser.“
Seit einem Jahr leistet das Klinikum diese Erstuntersuchungen. 5000 Menschen sind bisher gecheckt worden. Dißmann kann sich auf ein Team von bis zu 40 Freiwilligen verlassen, die die Untersuchungen zusätzlich zu ihrer regulären Arbeitszeit vornehmen – mit einer zusätzlichen Vergütung. Ort des Geschehens ist die chirurgische Ambulanz im Detmolder Klinikum. Wenn sie um 17 Uhr am Donnerstag schließt, geht es für Ärzte, Schwestern und Verwaltungspersonal richtig los.
Flüchtlingsambulanz bekommt feste Räume
Dann stehen Flüchtlinge aus den lippischen Notaufnahmestellen vor der Tür. „Die größte Herausforderung ist, die Ströme so zu lenken, dass man damit klar kommt“, sagt Patrick Dißmann. Rund eine Minute dauere es, jeden Menschen in die Datenbank aufzunehmen, dann kann die Untersuchung folgen.
Dr. Alexander Graudenz hat darüber hinaus ein Netz aus Freiwilligen gewoben, die hausärztliche Sprechstunden in den Flüchtlingsunterkünften anbieten. Oftmals sind es Mediziner, die bereits in Pension gegangen sind, die dafür zur Verfügung stehen. Auch die Fachärzte sind informiert – und aus jeder Fachrichtung stehe mindestens ein Kollege zur Verfügung, um im akuten Fall Flüchtlingspatienten zu behandeln.
Das in dieser Organisation gesammelte Know-how wollen die lippischen Mediziner demnächst an ihre Kollegen aus anderen Kreisen weitergeben. Am 25. November soll in der Stadthalle ein Symposium zur medizinischen Betreuung von Flüchtlingen stattfinden.
Der lippische „Turmbau zu Babel“ soll Patrick Dißmann und seinem Team demnächst leichter fallen. Die Flüchtlingsambulanz bekommt feste Räume mit eigenem Eingang. Räume, in denen bisher eine Linksherzkatheterplatte stand, werden dafür umgestaltet. Dr. Helmut Middeke, medizinischer Geschäftsführer des Klinikums, weiß um die Belastung in der Notaufnahme. Da bräuchte es eine andere Bezahlung und mehr Personal. Er sieht dabei die öffentliche Hand am Zug. „Das Gesundheitswesen muss überdacht werden“, sagt er.
Kommentar: Falsche Abhängigkeiten
von Thorsten Engelhardt
Für Stammtisch-Gerede taugt die Arbeit der Ärzte bei den Erstuntersuchungen der Flüchtlinge am Klinikum Detmold und in den Sprechstunden in den Unterkünften nicht. Gut so. Die Mediziner machen einen hervorragenden Job zum Schutz der Flüchtlinge und der Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig ist klar: Nur unbedingt notwendige Behandlungen werden auch eingeleitet. Das räumt Vorurteile aus.
Doch die Einsatzbereitschaft der Ärzte und des medizinischen Personals zeigt auch: In der Organisation der Flüchtlingsbetreuung ist sehr viel – zu viel – von dem Engagement der Handelnden vor Ort abhängig. Die Lipper haben ihre Organisation dafür selbst auf die Beine gestellt, sie sind damit anderen durchaus weit voraus. So weit, dass sie in einem medizinischen Symposium im November Fachkollegen erzählen werden, wie man es macht. Aber gäbe es dieses Engagement nicht, was gäbe es dann?
Diese Frage führt noch einmal eines deutlich vor Augen: Wenn es allgemein nicht schnell gelingt, die Betreuung der vielen Flüchtlinge und ihre Integration von der Zuweisung über die Bearbeitung der Anträge bis hin zum Deutsch-Unterricht gut zu organisieren, dann steuern wir auf große Akzeptanzprobleme zu. Dazu darf es nicht kommen. Dabei ist das sicher eine finanzielle Frage, aber nicht in erster Linie. Hier geht es vor allem um Management und Koordination.
tengelhardt@lz.de