Wie Ella (5) und ihre Familie in Detmold trotz schwerer Behinderung das Leben meistern

Detmold. Das Leben mit zwei Kindern hatten sich Britta und Jens Hellberg etwas anders vorgestellt - ein wenig leichter. Jetzt ist ihre jüngste Tochter Ella fünf Jahre alt und bewegt sich erstmals eigenständig mit dem Rollstuhl vorwärts. Ein Stück Selbstständigkeit, das sich alle so sehr gewünscht haben. Seit Kurzem übt die Fünfjährige auch mit dem Tablet, ihre Bedürfnisse auszudrücken. &bdquo;Hallo, ich bin Ella“, sagt die fremde Stimme aus dem Gerät vor ihr auf dem Küchentisch. Daneben sitzt Antonia, acht Jahre alt. &bdquo;Meine Schwester hat vor nichts Angst“, erklärt sie.

Dabei hat es Ella seit ihrer Geburt nicht leicht gehabt. Das Mädchen ist mit einem äußerst seltenen Gendefekt zur Welt gekommen. Nur bei einem von 100.000 Kindern tritt das Joubert-Syndrom auf, es gilt als kaum erforscht. Im Kern ist die Entwicklung des Zentralnervensystems und seiner Funktionen massiv gestört. Nur wenig lässt sich dazu im Internet finden. Vater Jens Hellberg (47) erklärt es vereinfacht: &bdquo;Eigentlich ist alles da, nur der Stecker will einfach nicht in die Dose passen“, sagt er. &bdquo;Die Verbindung fehlt, das Gehirn lässt sich nicht anschließen.“

Ein Jackpot, den keiner will Das bedeutet, Ella entwickelt sich stark verzögert. Sie wird wahrscheinlich nie selbstständig laufen oder sprechen können. Wie sich das Syndrom bei Kindern auswirke, sei aber sehr unterschiedlich, sagen die Eltern, je nachdem wie stark der Defekt ausgeprägt sei. Das betrifft auch die Lebenserwartung. &bdquo;Am Anfang habe ich nicht daran geglaubt, dass sie fünf Jahre alt wird“, sagt Jens Hellberg. Doch zum Glück kam es anders.

Ella hat in ihrem jungen Leben schon große Fortschritte gemacht, lernt gerade, mit ihrem ersten eigenen Rollstuhl dahin zu fahren, wo sie hin möchte - und auch das Tablet als ihre Stimme zu nutzen. Auf dem sicheren Schoß ihrer Mutter Britta Hellberg (46) gewöhnt sich das Mädchen an diesem Nachmittag schnell an den unbekannten Besuch mit dem Schreibblock und der Fotokamera. Ella stellt sich vor, sagt, sie wohne in Heidenoldendorf und fragt ihr Gegenüber nach dem Namen. Dabei helfen ihr die passenden Piktogramme auf dem Bildschirm.

Das Kind wirkt hellwach, die anfänglichen Tränchen sind schnell getrocknet. &bdquo;Sie bekommt alles mit, was wir sagen“, erklärt Britta Hellberg. Ella mag es nicht gerne, verrät ihre Mutter, wenn man über sie spricht. &bdquo;Vielleicht hat sie auch das Bewusstsein darüber, dass sie anders ist. Das frustriert sie.“ In schwierigeren Momenten reißt Ella sich die Haare aus oder kratzt sich so lange am Ohr, bis es blutig ist. Das sind Szenen, die meist Außenstehende nicht mitbekommen.

Ein Leben mit Hoffnung Denn meistens ist Ella fröhlich und gut drauf, wenn sie mit dabei sein kann, sagt ihre Mutter. Bisher habe sie dann vor allem in den Erwachsenenrunden am Tisch gesessen, während die anderen Kinder herumtobten. Britta Hellberg hofft daher, mit dem Rollstuhl könnte sich solche Szenen zukünftig ändern. In diesem Wunsch schwingt ganz viel Hoffnung mit - und vor allem Zukunft.

Wenn die Hellbergs alle technischen Hilfsmittel in ihrem Haus zusammenzählen, die ihre jüngste Tochter braucht, kommen schätzungsweise knapp 50.000 Euro zusammen. Bei vielen Dingen unterstütze die Krankenkasse, dennoch sei es arbeitsintensiv und herausfordernd, Anträge für Reha und Ähnliches durchzubringen. Herausforderungen betreffen das komplette Familienleben. &bdquo;Mit einem Mal war alles anders“, sagt Jens Hellberg. &bdquo;Man hatte in seinem Leben nie große Berührungspunkte mit Behinderung - und plötzlich steckt man mitten drin.“

Die Eltern wollen nichts beschönigen. Gerade anfangs seien vielen Tränen geflossen. Bis sie den Gendefekt ihrer Tochter als Teil des Lebens akzeptiert hatten, vergingen etwa drei Jahre. &bdquo;Meine Gedanken waren schon sehr dunkel“, sagt Britta Hellberg. In ihrer Partnerschaft hätten sie aber auch diesen düsteren Seiten offen aussprechen und teilen können. Das habe geholfen. &bdquo;Da haben wir schnell festgestellt, dass wir sehr ähnlich gedacht haben“, sagt Jens Hellberg und schaut rüber zu seiner Frau. Ihre Beziehung sei letztendlich gewachsen, auch wenn es im Alltag natürlich Momente gäbe, die beide überforderten.

Erst die Diagnose bringt Gewissheit Bis Ellas Gendefekt sicher diagnostiziert wurde, vergingen Monate. Am Ende war es mehr Zufall. Ein Kardiologe hatte offenbar von dem seltenen Syndrom auf einer Fortbildung gehört, daraufhin wurde Ella getestet. Beide Eltern tragen den Defekt in sich. Ein Sechser im Lotto, den keiner will, so beschreiben sie es.

&bdquo;Anfangs dachten die Kinderärzte, das verwächst sich wieder“, sagt Jens Hellberg. Mit der Diagnose kam dann eine andere Gewissheit. Auch wenn diese niederschmetternd war, ging es ab dem Punkt immerhin vorwärts. Ellas Alltag ist bis heute sehr geprägt von Therapien - je älter sie wird, desto mehr fällt die Entwicklungsverzögerung auf. Die Familie musste in diese Rolle erst einmal reinwachsen.

&bdquo;Da dreht sich die Welt doch etwas anders“, sagt Jens Hellberg. Und obwohl an der Situation keine Freundschaften zerbrachen, habe sich auch ihr Sozialleben stark verändert. &bdquo;Manche Menschen wenden sich schon ab - oder haben Berührungsängste.“ Das gehöre zur Realität, auch wenn niemand es böse meine.

Weil es nicht immer leicht für Außenstehende sei, zu verstehen, wie anstrengend der Alltag durch die Behinderung eines Kindes werden könne. Ella sei zwar fünf Jahre alt, aber brauche die Aufmerksamkeit wie ein Neugeborenes. Wirklich mal zu zweit ausgehen, ist für die Hellbergs daher gar nicht so einfach geworden. &bdquo;Es hat sich viel verändert“, sagen beide.

Schwesternsein mit Herausforderung Das gilt auch für ihre älteste Tochter Antonia, die gerade einmal drei Jahre alt war, als Ella geboren wurde. Wenn beide so nebeneinander sitzen, ist eine tiefe Verbundenheit spürbar. Die Schwestern lieben sich, sagen die Eltern. Und trotzdem gibt es Momente, in denen auch die Achtjährige manchmal traurig darüber ist, dass ihr Geschwisterleben eben ein anderes ist. Auch sie spricht mit ihren Eltern offen darüber. &bdquo;Ich glaube, dass ihr diese Erfahrung langfristig in ihrem Leben zugutekommt, aber natürlich hätten wir es uns alle anders gewünscht.“

Im Flur der Familie Hellberg steht daher ein Spruch auf einem kleinen weißen Holzbock geschrieben, der als ihr Familienmantra gilt. &bdquo;Auf der Suche nach dem Warum wurde ein egal gefunden“, steht darauf. Natürlich habe der Gedankenstrudel nach dem Warum auch ihre Familie mal erfasst. Warum wir? Warum unser Kind? Warum Ella? Sich darin zu verlieren, bringe aber nichts, das wissen sie schon lange. Deshalb geht es für die Hellbergs nur noch nach vorne - selbst bei Rückschlägen.

Spenden statt schenken Die kommenden zwei Wochen fährt Britta Hellberg mit Ella zu einer Therapie mit Vibrationsrüttelplatte nach Köln, um die Muskeln der Beine zu aktivieren. Zweieinhalb Jahre haben sie darauf gewartet. &bdquo;Das wird anstrengend, aber wir hoffen, dass sie das weiter nach vorne bringt“, sagt Britta Hellberg. Sie selbst hat Glück, dass ihr Arbeitgeber, ein großes Bielefelder Bauunternehmen, ihre die Möglichkeiten problemlos einräumt. Ehemann Jens Hellberg ist als Maler selbstständig, hat seine Firma direkt neben ihrem Haus in Detmold. Alles in allem sind sie eine ganz normale Familie, auch wenn sich das Leben samt Prioritäten verschoben habe.

Statt Geschenken hat sich Jens Hellberg daher mit seinem Vater zusammen dieses Jahr erstmals Spenden zum Geburtstag gewünscht. &bdquo;Wer braucht schon eine Flasche Schnaps oder den nächsten Gutschein, der in der Ecke rumliegt“, erklärt er. &bdquo;Wenn man ein Kind mit Behinderung hat, denkt man über so etwas anders nach.“ Die Idee kam gut an. Mehr als 1000 Euro sind zusammengekommen, die unter anderem dem Turnverein Heidenoldendorf und seinem Programm für Kinder mit Behinderungen gespendet werden sollen.

Wenn alles gut läuft, wird Ella Anfang 2026 dort auch selbst mitmachen. Der Rollstuhl macht es möglich. Das wäre wieder ein großer Meilenstein - denn Ella liebt es, genau wie im Kindergarten, mit anderen Kindern zusammen zu sein.

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