"Black Mirror: Bandersnatch" lässt Zuschauer über Leben und Tod entscheiden

Die Welt steht kurz vor dem Ende. Maschinen drohen, die Herrschaft zu übernehmen. Ein apokalyptisches Szenario, das so manch einen düsteren Science-Fiction-Film einleitet. Auch die Serie "Black Mirror" widmet sich in ihren Kurzfilmen meist dem digitalen Fortschritt und dessen möglichen Folgen. In "Black Mirror: Bandersnatch" geht es jedoch in eine ganz andere Richtung - nämlich in die Vergangenheit. Doch der Serienteil, der als interaktiver Film konzipiert ist, ist dabei nicht minder düster. "Leiche zerteilen oder vergraben?", fragt das System den Zuschauer. Es bleibt die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Die Frage, die namensgebend für den sogenannten Schmetterlingseffekt ist, schwebt im Hinterkopf mit, wenn die ersten Minuten von "Bandersnatch" über den Fernseher flackern.

Es ist das Jahr 1984. Die Idee des Internets steckt noch in den Kinderschuhen, Computerspiele erobern langsam aber sicher die Herzen der Teenager. Unter ihnen: Stefan Butler (Fionn Whitehead). Der junge Mann hat es sich zum Ziel gesetzt, selbst ein Spiel zu entwickeln - aus seinem Kinderzimmer heraus. Als Grundlage für die Geschichte nimmt er sich einen Science-Fiction Roman mit dem Titel "Bandersnatch", den seine verstorbene Mutter ihm einst ans Herz gelegt hat. Stefan bastelt ein virtuelles Labyrinth, in dem das Wesen Pax versucht, den Spieler zu überwältigen. Dieser muss immer wieder Entscheidungen treffen, die ihn schließlich ins Ziel bringen sollen. Doch bevor "Bandersnatch" marktreif wird, gilt es auch für den Zuschauer einige Entscheidungen zu treffen.

"Sugarpuffs" oder "Frosties"? Kaum ist man mit dem Film warm geworden, muss man entscheiden, welches Frühstück der Protagonist Stefan zu sich nimmt. Was auf den ersten Blick banal wirken mag, könnte aber entscheidende Ausmaße annehmen. Wie der Flügelschlag des Schmetterlings könnten die "Sugarpuffs" etwa dafür sorgen, dass sich Stefan schrecklich verschluckt und notoperiert werden muss. Oder sein Vater könnte ihm dabei zu Hilfe eilen, wenn er sich an der Verpackung der "Frosties" schneidet. Vielleicht würde die falsche Wahl auch dafür sorgen, dass er im späteren Verlauf des Tages furchtbare Magenkrämpfe bekommt und daher eine wichtige Person nicht kennenlernt. Schnell wird deutlich: alles hängt zusammen und Entscheidungen müssen unweigerlich getroffen werden. Doch der Zuschauer hat eben nicht alle Zeit der Welt, um eben jene Möglichkeiten im Kopf durchzuspielen und eine analytisch sichere Entscheidung zu treffen. Der Countdown läuft. Wenige Sekunden bleiben, bevor das System die Entscheidung abnimmt.

Stefan will im Verlauf des Films sein Spiel an den Video-Spielentwickler Tuckersoft verkaufen. Doch, um das zu schaffen, muss er es zu Ende programmieren. Immer wieder stößt er auf Herausforderungen, die den Jugendlichen an den Rand des Wahnsinns treiben. Und auch die Entscheidungen, die der Zuschauer für Stefan treffen muss, werden immer pikanter. Es geht von den besagten Frühstücks-Cerealien über Stefans Musik bis hin zu der Frage, ob er Drogen nehmen, seinen Computer zerstören oder gar jemanden töten soll. Dabei verändert sich auch Stefans Charakter und Wahrnehmung innerhalb des interaktiven Spiels. Die Figur erahnt, dass jemand anderes die Strippen zieht, bettelt in die Kamera, etwas nicht tun zu wollen. Der Zuschauer wird zu Gott gemacht - oder eben zum Marionettenspieler in einem Spiel, dessen Charaktere auf einmal eine menschliche Seite zeigen.

Don't do it. pic.twitter.com/dZUeyxW50x

Black Mirror (@blackmirror) 27. Dezember 2018 "Bandersnatch" ist keine Dystopie und kein Horrorfilm im eigentlichen Sinne. Es ist nicht einmal ein Thriller. Viel mehr lässt sich der Film als Spiel verstehen. So gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wie die Geschichte sich entwickeln kann und unterschiedliche Versionen des Endes. Die kürzeste Filmversion soll bei rund 40 Minuten liegen, die längste bei etwa 120 Minuten. Zwischendurch wird der Zuschauer gegebenenfalls auch einige "Game Over"-Momente erleben, bei denen ihm nichts anderes übrig bleibt, als zur letzten Entscheidung zurückzukehren und sie noch einmal neu zu überdenken. Was manchmal gar nicht so einfach ist, wenn die Hauptfigur einen anbettelt, eben dies nicht zu tun... Der Black-Mirror-Standalone-Film ist ein Genre für sich. Er spielt auf eigentlich gleich drei Ebenen.

Das Spiel im Spiel, die Filmebene an sich und die des Zuschauers. Denn am Ende wird man in "Bandersnatch" eben selbst Teil der Geschichte. Damit öffnet Netflix ein ganz neues Fernseh-Erlebnis, das sicher nicht die Tradition normaler Filme ablösen wird, zumindest aber dem beliebten "Second Screening" (während des Filmschauens einer anderen Beschäftigung nachgehen am Smartphone/Laptop) kurzzeitig ein Ende setzt. Denn der Film ist keine seichte Unterhaltung, ungeteilte Aufmerksamkeit ist unerlässlich.

Wer an "Bandersnatch" gefallen gefunden hat, findet auf Netflix noch einige weitere interaktive Werke, darunter "Minecraft: Story Mode", "Strech Armstrong: Der Ausbruch", "Der gestiefelte Kater und das magische Buch" und "Buddy Thunderstruck". Nicht interaktiv, aber mit einer ähnlichen Prämisse wie "Bandersnatch" geht es in "Butterfly Effect" (2004) und in "Schräger als Fiktion" (2006) zu. Die fünfte Staffel von "Black Mirror" soll übrigens noch 2019 folgen.

Ein teurer Spaß "Bandersnatch" versteht sich in der Tradition der Abenteuer-Romane, die am Ende jedes Kapitels den Leser auffordern, eine Entscheidung zu treffen. Im englischen Sprachraum gibt es eine solche Reihe unter dem Titel "Choose Yor Own Adventure". Da Netflix damit wirbt, "Bandersnatch" sei eben wie ein solches verfilmtes Buch, aber keine Rechte für die Reihe erworben hat, gibt es nun einen Rechtsstreit. "Choose Your Own Adventure" sei als kinderfreundliche Reihe angelegt und "Bandersnatch" würde mit seiner Brutalität der Marke schaden, heißt es im Hollywood Reporter. Der Buchverlag verklagt den Streamingdienst nun auf eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 25 Millionen Dollar.

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