Kreis Lippe. Noch sieben Monate, dann wird in Deutschland gewählt. Die Vorbereitungen der Bundestagswahl am 26. September laufen unter Corona-Bedingungen. Die Entscheidung, wer in den beiden Wahlkreisen für die SPD antreten wird, fällt an diesem Wochenende. Eine Delegiertenkonferenz im Wahlkreis Lippe I gibt es nicht, stattdessen erfolgt das Votum per Brief, diese Stimmen werden am Samstag ausgezählt. Zur Wahl stellen sich Jürgen Berghahn aus Blomberg-Istrup und Andreas Schmidt aus Detmold-Eichholz. Beide Kandidaten haben die Gelegenheit genutzt, und der LZ im Interview Frage und Antwort gestanden (siehe unten). Die Entscheidung für den neu zugeschnittenen Wahlkreis Höxter-Gütersloh III-Lippe II, zu dem der gesamte Kreis Höxter, die Stadt Schloß Holte-Stukenbrock sowie Augustdorf, Schlangen, Horn-Bad Meinberg, Schieder-Schwalenberg und Lügde gehören, fällt am Samstag in einer Präsenz-Delegiertenkonferenz in der Stadthalle Steinheim. Für die Kandidatur dort bewerben sich der Physik-Student Tim Vollert (20) aus Beverungen und der Veterinär-Mediziner Uli Kros (50) aus Nieheim. Beide engagieren sich in der Kommunalpolitik, beiden ist die Umwelt- und Klimapolitik wichtig, schreibt SPD-Kreisgeschäftsführer Rainer Brinkmann. Herr Berghahn, dreimal hintereinander – 2010, 2012 und 2017 – haben Sie ein Direktmandat für den Landtag errungen. Warum wollen Sie Düsseldorf gegen Berlin tauschen? Jürgen Berghahn: Es ist kein Tauschen, es ist der Wille, etwas verändern zu wollen! Soziale Gerechtigkeit zum Beispiel ist mir wichtig. Die Pandemie hat gezeigt, dass es wenige Gewinner und viele Verlierer gibt. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist wieder größer geworden, und das müssen wir ändern. Ich möchte mich mit meinen Erfahrungen aus elf Jahren Landespolitik in Berlin einbringen, besonders auch mit Blick auf das Thema Schutz von Kindern. Sie sind Mitglied im Untersuchungsausschuss Lügde. Welche Versäumnisse wurden aus Ihrer Sicht begangen? Berghahn: An Hinweisen zum frühzeitigen Beenden des vielfachen Kindesmissbrauches hat es nicht gemangelt, man hätte es nur wie ein Puzzle zusammenführen müssen. Hinzu kommen mangelnde Kommunikation, mangelnde Qualifizierung und der mangelnde Wille, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich habe aber auch gelernt, dass unsere Gesellschaft da versagt hat, weil wir zu oft wegschauen! Welches sind aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten bundespolitischen Themen, die ein heimischer Abgeordneter für Lippe in nächster Zeit aufgreifen muss? Berghahn: Sozialer Zusammenhalt – Gute Arbeit, faire Einkommen und Renten, weil es für mich Teilhabe am Leben bedeutet und mit Wertschätzung zu tun hat. Mobilität und Infrastruktur, weil das für unser aller Zukunft in Lippe wichtig ist. Für die Unternehmen, für Arbeits- und Ausbildungsplätze, für die Schulen, Hochschulen usw.. Zu der Infrastruktur zählt für mich auch die Breitbandversorgung und der Handel. Klima- und Umweltschutz, weil es zusammen gedacht werden muss. Weniger mit verboten, als mit Förderungen, Aufklärung und einem Umdenken. Je eher, desto besser! Corona überschattet alles. Die Anfeindungen gegenüber Politikern nehmen zu. Wie können Sie sich in dieser Situation überhaupt motivieren, auf Landes- oder Bundesebene Politik zu machen? Berghahn: Angst ist ein schlechter Berater und den lasse ich nicht an mich ran. Dass man sich als Berufspolitiker Anfeindungen gegenüber sieht, kann ich bestätigen, und es werden leider auch mehr. Vielfach wird dies sogar von politischen Organisationen gesteuert! Was aber erschreckend ist, dass auch Kommunalpolitiker/innen, die sich ehrenamtlich einbringen vermehrt Anfeindungen erleben. Das geht gar nicht, und da ist unsere Gesellschaft gefordert! Positiv gefragt: Was können wir aus der Pandemie lernen? Berghahn: Sehr, sehr viel. Im März und April 2020 haben sich Millionen Menschen spontan bei den „Helden/innen des Alltags" bedankt. Diesen Dank sollten wir nicht vergessen und dem Dank auch Taten folgen lassen! In der Corona-Krise sind die Schwächen einer globalisierten Welt deutlich geworden und dass man nicht immer alles unter wirtschaftlichen Aspekten sehen darf. Unternehmen mussten die Produktion einstellen, weil Lieferungen aus dem Ausland ausblieben. Medizinische Schutzkleidung z. B. wurde knapp und unsere Volkswirtschaft hat ihre Schwächen durch Auslagerung von Produktionen systemrelevanter Güter und Lieferketten deutlich gemacht. Viele Dinge haben funktioniert, weil wir mit unseren Hilfs- und Rettungsdiensten gut aufgestellt sind und weil sehr viele Menschen einfach mit angepackt haben. Ein starker demokratischer Staat bietet Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger! Da braucht man nur einmal über die Grenzen zu schauen. Persönlich: Jürgen Berghahn (60) ist seit 2010 NRW-Landtagsabgeordneter.Der gelernte Elektroinstallateur war 26 Jahre bis zur Insolvenz bei Schieder Möbel beschäftigt, lange im Betriebsrat. Er lebt in Istrup, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Herr Schmidt, was reizt Sie, nach 21 Jahren im Stadtrat den Sprung nach Berlin zu wagen? Andreas Schmidt: Ich möchte mein Lebensumfeld gestalten und mich nicht darauf verlassen, dass es andere für mich richten. In der Pandemie zeigt sich die Zerbrechlichkeit unseres sozialen und demokratischen Miteinanders. Das möchte ich positiv verändern. Meine Erfahrungen in der Kommunalpolitik werden mir dabei helfen. Der Suchraum der ICE-Trasse ist ein wichtiges Thema, hier sehe ich massiven Handlungsbedarf für den Bundestagsabgeordneten. Sie möchten mit Ihrer fachlichen Expertise im Bereich der Informations-Technologie die Digitalisierung mitgestalten" – woran hapert es am meisten? Schmidt: Problemkinder sind der Mobilfunk bzw. die Funklöcher und die Bandbreite, sowie die Verlässlichkeit der Internetverbindung. Das Ziel muss die Realisierung von flächendeckend Anschlüssen mit entsprechender Bandbreite sein. Dafür ist der Netzausbau in Lippe, der schon begonnen wurde, weiter voranzutreiben und zu fördern. Ebenso wichtig ist die Verlässlichkeit der Verbindungen. In Spork-Eichholz waren in der letzten Woche 1350 Wohnanschlüsse ohne Fernsehen, Telefon und Internet. Das ist in Homeoffice Zeiten ein Desaster. Ziel ist es eine digitale Grundversorgung analog Wasser, Strom und Gas. Welches sind die drei wichtigsten bundespolitischen Themen, die ein Abgeordneter für Lippe aufgreifen muss? Schmidt: 1.) Es gilt das Grundprinzip, dass wirtschaftlich Stärkere Schwächere unterstützen sollten. Obwohl es es noch nie zuvor so viele sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer gab und die Löhne im unteren Bereich durch den Mindestlohn gestiegen sind, ist der Abstand zur Mitte gleichgeblieben. Harz IV ist stigmatisierend. 2.) Es wird keine Klimawende geben, ohne die ländlichen Regionen dafür zu gewinnen und deren Potenziale zu nutzen. Hier hat der ländliche Bereich klar Standortvorteile (Freiflächen und Ressourcen / Biomasse). 3.) Start-Ups: Deutschlands wichtigster „Rohstoff" ist Wissen. Wir haben die besten Voraussetzungen dafür, diese Herausforderungen innovativ zu bewältigen. Wir haben in Lippe schlaue und schnelle Köpfe, oft fehlt es an Mut und einem guten Netzwerk. Corona überschattet alles. Die Anfeindungen gegenüber Politikern nehmen zu. Wie können Sie sich in dieser Situation überhaupt motivieren, auf Bundesebene Politik zu machen? Schmidt: Ich bin nicht naiv, und das Anfeinden von Politikern ist leider dabei, sich gesellschaftlich weiter zu etablieren. Die vermeintliche Anonymität des Internets wirkt hier wie ein Katalysator. Grundsätzlich scheue ich keine inhaltlich hart geführte Diskussion. Gerade jetzt in der Pandemie führt die fehlende Verbindlichkeit in der Perspektive dazu, das viele Menschen sich verloren fühlen. Bei Anfeindungen ist es mir erst einmal wichtig zu verstehen: Was bewegt den Menschen, der mich da anfeindet? Oft sind es Ängste oder Überforderungen. Positiv gefragt: Was können wir aus der Pandemie lernen? Schmidt: Im Augenblick sind wir mitten in der Pandemie – da fällt es nicht leicht, angesichts drohender existenz-vernichtender Insolvenzen von Unternehmen, Solo-Selbstständigen und Kleinkünstlern und ohne gelebte Kultur etwas Positives zu finden. Die Pandemie hat uns gezeigt, was wichtig ist in unserem persönlichen Umfeld. Dinge die wir als selbstverständlich empfunden haben und über die wir wahrscheinlich nie nachgedacht haben, sind nicht mehr da. Das sollte unseren Werte-Kompass justieren. Mich hat in der Pandemie beeindruckt, wie veränderungsfähig wir sind – siehe Videokonferenzen oder Homeoffice. Persönlich: Andreas Schmidt (56) kommt aus Detmold-Eichholz und ist seit 2004 Ratsmitglied. Der Programm- und Projektmanager berät Kunden im Umfeld der Informations-Technologie. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.