96-Jährige aus Lemgo verklagt Klinikum Lippe

Kreis Lippe. "Ich habe keine Angst", sagt Margret Kreuder mit Nachdruck. "Es geht mir einfach um diese Ungerechtigkeit." Stolze 96 Jahre ist die Lemgoerin alt - trotzdem wird sie in wenigen Tagen vor die Zivilkammer des Landgerichts ziehen, weil sie Klage gegen das Klinikum Lippe eingereicht hat.

Am 6. September werden sich beide Parteien in Detmold gegenübersitzen - nicht weil Ärzte Fehler machten, sondern weil im November 2021 die persönlichen Wertsachen der damals kurzfristig eingelieferten Patientin aus dem Krankenhaus verschwunden sind, sich aber offenbar niemand verantwortlich fühlt. Es geht um Gegenstände im Wert von rund 5000 Euro. Das Klinikum könne Diebstahl nicht ausschließen, daher sei es nicht haftbar, teilt es mit.

Klinikum verhält sich aus Sicht der Klägerin respektlos Geklagt hat Margret Kreuder nicht wegen des Geldes, es geht ihr ums Prinzip. Ihr Anwalt Ralf Fischer spricht gar von "Respektlosigkeit", mit dem das Klinikum seiner Mandantin begegnet wäre, weil man zunächst gar daran gezweifelt habe, ob sie die Gegenstände überhaupt mitgehabt hätte. "Mich ärgert einfach, dass sie mich als dement darstellen", sagt Margret Kreuder mit fester Stimme. "Nur weil ich alt bin." Gefallen lassen will sie sich das nicht. Schon gar nicht nachdem die Lemgoerin nach dem ersten Medienrummel von vielen anderen Patienten gehört habe, denen Ähnliches passiert sein soll. "Alle erzählen ähnliche Geschichten. Ich war kein Einzelfall", sagt sie.

Das Klinikum relativiert. Gelegentlich kämen zwar Wertgegenstände abhanden, obwohl das Personal Patientinnen und Patienten dafür sensibilisiere, persönliche Dinge zuhause zu lassen, das passiere aber äußerst selten. "2021 hatten wir 95 Verlustmeldungen, in 2022 bisher 71 bei 50.000 Patientinnen und Patienten im Jahr", teilt Klinikums-Pressesprecher Christian Ritterbach mit. Oft sei der Verlust dabei auf eigenes Fehlverhalten zurückzuführen. Zahlen für 2019 sind aus internen Gründen nicht greifbar. Wie es vor der Pandemie war, lässt sich also nicht kurzfristig nachvollziehen.

Familie fühlt sich nicht ernst genommen Am 18. November 2021 fühlt sich die damals noch 95-Jährige nicht wohl, ihr Hausarzt in Lemgo diagnostiziert überraschend eine Lungenentzündung. "Ich bin sofort mit Blaulicht im Rettungswagen ins Krankenhaus nach Detmold gebracht worden. Das war schon aufregend." Mit dabei hatte sie alles, was sie im Alltag braucht: Zwei Hörgeräte, Brille, Mantel und eine Tasche mit Bargeld und Haustürschlüsseln. Während der Untersuchung muss Margret Kreuder alles ablegen, sie bekommt ein klassisches Krankenhaushemd, wird für acht Tage stationär aufgenommen. Anders als die Patientin schaffen es ihre Wertsachen aber nicht mit aufs Zimmer. "Ich habe immer wieder gesagt, meine Sachen sind noch unten, aber keiner hat reagiert", sagt die Seniorin.

Gemeinsam mit Tochter Ute Kirchhof und ihrem Schwiegersohn füllt sie dann nach Rücksprache mit dem Beschwerdemanagement eine Verlustmeldung aus und erstattet parallel, wie üblich, Anzeige bei der Polizei. "Vier Wochen später kurz vor Weihnachten kam dann die Antwort des Klinikums, das hat uns ganz schön umgehauen", sagt Ute Kirchhof. Das Krankenhaus werde die Wertsachen nicht ersetzen, heißt es in dem Schreiben, da der Haftpflichtversicherer den Fall geprüft habe und "keine haftungsrechtliche Verantwortlichkeit des Klinikums" sehe.

Rechtsanwalt Ralf Fischer sieht das anders: "Das war ja kein lange geplanter Aufenthalt", sagt er. "Meine Mandantin ist völlig kurzfristig eingewiesen worden." In diesem speziellen Fall habe das Klinikum also eine Obhut- und Sorgfaltspflicht der Patientin gegenüber. Schließlich habe hier niemand achtlos sein Gebiss auf dem Tablett liegen gelassen, was man dem Personal sicher nicht hätte ankreiden können. "Man hat sie dann noch ohne Brille den Patientenvertrag unterschreiben lassen", sagt er und zeigt verärgert das Schriftstück mit der Hausordnung. "Das ist so klein gedruckt, ich kann es selbst kaum lesen." Das Motto "Mensch zu Mensch" habe das Klinikum hier klar verfehlt, sagt Fischer.

Dabei hatte das Klinikum Lippe in seinem Schreiben vom 22.12.2021, das der LZ vorliegt, eingeräumt, dass die Gegenstände über den Rettungsdienst verpackt und mit Patientenaufklebern versehen worden waren. "Auf dem Transport innerhalb unseres Hauses sind die Gegenstände abhanden gekommen", teilt die Rechtsabteilung mit. Allerdings könne auch Diebstahl durch Dritte nicht ausgeschlossen werden - wofür das Krankenhaus nicht haftet. Tochter Ute Kirchhof findet das verwunderlich: "Das war mitten in der Pandemie, wir kamen ja selbst kaum rein, um meine Mutter zu besuchen."

Klinikum: "Manche Fälle können auch den Tatbestand der Nötigung darstellen" Wegen des laufenden Verfahrens will sich das Klinikum Lippe nicht konkret zum Fall äußern, dennoch bedauere es, wenn sich Patienten über Verluste ärgern müssten. Daher prüfe das Klinikum jeden Anspruch verpflichtend, im Zweifelsfall könne man auch kulant sein, sagt Christian Ritterbach. Allerdings müsse das Krankenhaus besonders sorgfältig auf die Anspruchsgrundlage schauen, um sich nicht dem Vorwurf der Untreue auszusetzen.

Der Druck auf das Klinikum scheint aber zu wachsen. Zuletzt sei bei einigen Verlustanzeigen und Beschwerden vermehrt mit der Presse gedroht worden, schreibt der Pressesprecher, was aus Sicht des Klinikums auch den "Tatbestand der Nötigung darstellen" könnte. Daher wolle man die Sachverhalte objektiv behandeln und kontroverse Fragestellungen gerichtlich klären lassen. Derzeit beschäftigten also zwei Fälle das Gericht, sagt Ritterbach.

Einer davon ist der Fall von Margret Kreuder aus Lemgo, die mit ihren 96 Jahren nun vor Gericht aussagen wird. Hätte sie sich vom Klinikum Lippe von Anfang an ernstgenommen gefühlt, sie wäre womöglich nicht so weit gegangen, sagt die Lemgoerin. "Ich will einfach nur Gerechtigkeit. Und wenn mein Fall anderen helfen kann, hat es sich schon gelohnt."

"Verzweiflung ist keine Nötigung" Ein Kommentar von Janet König

Das Klinikum hat sich keinen Gefallen getan, es hätte der 96 Jahre alten Dame - der es offensichtlich nicht ums Geld geht - ihre Wertsachen einfach ersetzen oder ihr zumindest auf Augenhöhe begegnen sollen. Damit hätte sich das Krankenhaus ein großes Beben erspart. Selbst wenn das Klinikum vor der Zivilkammer des Landgerichts Recht behält, ist der davongetragene Imageschaden viel zu groß.

Natürlich muss die Rechtsabteilung solche Sachverhalte abklären und ordentlich prüfen. Sicherlich schwingt auch die Angst mit, einen Präzedenzfall zu schaffen. Doch wenn es im speziellen um Menschen geht, zählt auch der individuelle Blick auf die Situation - was hätte die 96-jährige Margret Kreuder anders machen sollen?

Und sie ist nicht allein. Durch die bisherige Berichterstattung in anderen Medien erreichen die LZ vermehrt Erfahrungsberichte von verzweifelten - vorrangig älteren - Patientinnen und Patienten, die den Verlust ihrer Wertgegenstände aus dem Klinikum Lippe beklagen. Dass dem Krankenhaus das nicht gefällt, ist klar. Selbst wenn die Fälle im Vergleich zu den Patientenzahlen wenige sind. Dass das Klinikum aber einzelnen Betroffenen, die zuletzt mit der Zeitung "drohten", allen Ernstes Nötigung vorwirft, ist ziemlich schwach. Jeder Mensch hat das Recht, seine Geschichte öffentlich zu machen, vor allem wenn er oder sie sich von Konzernen ungerecht behandelt fühlt.

Natürlich gibt es auch Personen, die die Presse für ihre Zwecke instrumentalisieren und ausnutzen wollen. Darum obliegt es der Sorgfaltspflicht der Redaktion, diese Dinge abzuklären und zu prüfen. Oft ist es die pure Verzweiflung der Menschen, die das Öffentlichmachen ihrer Geschichte als letzten Ausweg erscheinen lässt. Gerade das Klinikum Lippe sollte dafür mehr Verständnis haben. Schließlich geht es wie im Fall von Margret Kreuder oft um ältere Menschen, die sich in solchen Situationen allein gelassen fühlen.

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