Wie es den Bundestags-Neulingen aus Lippe nach einem Jahr ergeht

Berlin. Fünf Bundestagsabgeordnete vertreten die lippischen Interessen im Parlament: Kerstin Vieregge und Christian Haase von der CDU sowie Christian Sauter (FDP) sind schon länger dabei, für Robin Wagener (Grüne) und Jürgen Berghahn (SPD) ist es die erste Wahlperiode. Die LZ wollte wissen, wie es den Frischlingen ein Jahr nach der konstituierenden Sitzung am 26. Oktober 2021 in Berlin ergeht. Redakteur Martin Hostert hat die beiden in Berlin besucht.

Fast schon provozierend langsam verlässt der ICE den Berliner Hauptbahnhof und zuckelt Richtung Osten. Frech überholt eine Straßenbahn. Das Ganze hat etwas von einer Märklin, Spur H0. Aber Betrachter sehen kein Modell im Maßstab 1:87, das hier ist die Realität. Jürgen Berghahn sieht das Schauspiel mehrfach am Tag, schaut er aus dem Fenster seines Büros im Luisenblock West – seit einem Jahr einer seiner Arbeitsplätze. Andere sind Fraktionsräume, der Plenarsaal, Sitzungssäle ... Der Blomberger schätzt, dass er rund zehn Kilometer täglich unterwegs ist zwischen den Bundestagsgebäuden, über die &bdquo;Beamtenlaufbahn“ (die Fußgängerbrücke über die Spree), mit Halt in der Kantine und zurück. Und die Routen der Fahrstühle im Reichstag sind kaum zu durchschauen. Welcher Lift hält in welcher Etage? Das wissen nur alte Hasen, die mindestens so lange dabei sind wie Wolfgang Schäuble.

Berghahn ist kein alter Hase, zumindest nicht in der Bundespolitik. Für ihn war Berlin vor einem Jahr Neuland und ist es zum Teil noch. Er ist stellvertretender Sprecher der SPD-Fraktion in Verkehrsthemen und Berichterstatter seiner Fraktion. Das ICE-/Straßenbahn-Rennen und die weitverzweigten Berliner Wege sind da durchaus beispielhaft für die Politik und für das Wesen der Demokratie. Es geht nicht immer alles so schnell, wie man möchte, und Kompromisse zu finden, ist hohe Kunst.

Klar gegen eine Trasse Bielefeld-Hannover über Bad Salzufler Gebiet Klar ist es ärgerlich, wenn ICEs schleichen müssen. &bdquo;Aber wir können hier ja schlecht ein weiteres Gleis legen, dafür ist die Bebauung ja viel zu eng.“ Neubauten sind sowieso so eine Sache, sie dauern, wenn es schnell geht, Jahrzehnte. Der Blomberger ist klar gegen eine Trasse Bielefeld-Hannover über Bad Salzufler Gebiet : &bdquo;Da werden gigantische Summen ausgegeben, um wenige Minuten zu gewinnen. Das steht in keinem Verhältnis mehr – erst recht nicht, wenn man die CO2-Bilanz betrachtet.“ Vielmehr wäre der Bahn und ihren Kunden geholfen, brächte sie kleinere Nebenstrecken auf Vordermann. Auch, um den Pendlerverkehr vor Ort zu entlasten.

Die Gedanken springen in die Heimat. Er warte gespannt auf die Machbarkeitsstudie zur Wieder-Inbetriebnahme der Begatalstrecke, die Anfang 2023 vorliegen soll. Ein Zug von Bielefeld bis Barntrup: Was für eine Chance für die vielen Betriebe im lippischen Norden und Osten! Fehlen lediglich noch bessere Taktungen, eine gute Tarifstruktur, gute Anbindungen an den Bus, Parkplätze für Autos und Räder ... und schwupps, schon kann man zur Arbeit mit der Bahn fahren und entspannt hinnehmen, dass die ICE zuweilen mit Tempo 3 statt 300 unterwegs sind.

Von der Hauptstadt hat er noch nicht viel gesehen Ein Jahr Berlin – doch von der Hauptstadt hat er noch nicht viel gesehen, vielleicht macht er mit seiner Frau mal Urlaub dort. Die Kuppel des Reichstages betritt Jürgen Berghahn ausnahmsweise und erst zum zweiten Mal überhaupt, um sie dem Redakteur aus der Heimat zu zeigen – und weil seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Anna Mariß das organisiert hat. (Die kennt sich mit den Fahrstühlen übrigens auch nicht aus.) Ein Jahr Berlin heißt, 12, 14 Stunden am Tag zu arbeiten, Dokumente zu lesen, an Konferenzen teilzunehmen, mit Verbänden zu sprechen.

An diesem Abend muss er um 23.30 Uhr über einen Antrag abstimmen, in dem es darum geht, &bdquo;die Strafbarkeit der öffentlichen Billigung, Leugnung und gröblichen Verharmlosung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ im Strafgesetzbuch aufzuführen. Ende eines Tages, der morgens mit dem Lauschen der Regierungserklärung des Kanzlers begonnen hatte. Ein Tag mit vollem politischen Programm: Ukraine , Gaspreisbremse, Mietpreisbindung, Meeresschutz, Völkermord.

Nebenbei den Tannenbaum fürs Dorf organisieren Aber Berghahn liegt es fern, ein Klagelied anstimmen. Er hat den Job gewollt, und er genießt ihn. &bdquo;Auch wenn das alles ein bisschen komplizierter ist als in Düsseldorf.“ Dort hatte er ja ein Landtagsmandat inne und sich in den vergangenen Jahren sehr in die Arbeit im Untersuchungsausschuss zu den Verbrechen auf dem Lügder Campingplatz gekniet.

Er habe &bdquo;voller Entsetzen“ in Abgründe geschaut und den Kinderschutz auf Bundesebene voranbringen wollen. Datenschutz, Digitalisierung, Zusammenarbeit mit Interpol ... Aber in der Hauptstadt angekommen, merkte er schnell: Das ist alles ein bisschen viel. Gleichzeitig war er im Verkehrsausschuss, Ausschüsse tagten gleichzeitig, das Engagement war &bdquo;nicht zielführend“. Also konzentrierte er sich auf Schienen und Autobahnen, erzählt von beschleunigten Verfahren, Lärmschutz und Klageverfahren etwa beim Neubau der A-45-Brücke bei Lüdenscheid. Ähnliches gilt für die Leverkusener Brücke – Baustellen, die er sich vor Ort angesehen hat.

Und die Lokalpolitik? Berghahn will sie keinesfalls aufgeben, den Draht zu seinen Blombergern halten. Er ist Ratsherr, &bdquo;das klappt meistens“. Als Ortsvorsteher in Istrup kann er Termine selbst organisieren und Dinge regeln. So wie diesen Vormittag. Er hatte mit dem Förster telefoniert, damit der schon mal nach einem Weihnachtsbaum fürs Dorf guckt. Das ist ein bisschen wie die heile Märklin-Welt.

Robin Wagener: Vom hohen Gut, streiten zu dürfen &bdquo;Wie großartig ist das denn, streiten zu können?“, fragt Robin Wagener. Er sagt diesen Satz aus tiefer Überzeugung, hat er doch als Obmann im Afghanistan-Untersuchungsausschuss, als Sprecher der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe und als Berichterstatter der Grünen für Russland und Belarus wahrlich genug zu tun mit Menschen, die gerade das nicht können: offen diskutieren. Meinungen austauschen. Kompromisse finden. J üngst haben SPD-Politiker einen von ihm mitverfassten Aufruf nach zusätzlichen Waffen für die Ukraine zurückgewiesen. Es wird gestritten und diskutiert. Großartig. Noch ein Beleg? Während des Gesprächs mit dem Lokalredakteur bekommt Wagener die Textnachricht einer Politikerin aus Frankreich: Lob für seinen Vorstoß.

Was für eine Bandbreite, was für ein Spagat. Unter der Woche geht es in Berlin um nichts Geringeres als Weltpolitik. Jeden Donnerstag arbeitet Wagener von mittags in Zeugenvernehmungen bis in die Nacht den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan auf. Liest vorher Memos und Mails, Berichte und politische Beschlüsse nach. Viel am Rechner, doch die geheimen Verschlusssachen gibt es nur auf Papier. Bergeweise Akten. Wo ist was schiefgelaufen, was war gut und richtig, was bewerten wir heute anders?

Distanz für die Seelenhygiene Er hört und befragt Militärs und Politiker im Ausschuss, auch die früheren Verteidigungsminister Heiko Mass und Annegret Kramp-Karrenbauer werden geladen werden. Und die Ukraine: Wagener erzählt von verschleppten Kindern, von Nachrichten, die Bekannte schicken: "Heute leb ich noch. Wer weiß, was morgen ist." Von Müttern, die ihre Kinder zitieren: "Mama, war das gerade eine Atombombe?" Warum er in einer so nüchternen Sprache von diesen schrecklichen Geschehnissen spreche? "Das fragen mich meine Besuchergruppen auch. Das ist wichtig für die Seelenhygiene. Natürlich bewegt es mich sehr, aber sonst kann ich nicht sachlich darüber nachdenken und entscheiden."

Afghanistan und die Ukraine als Schwerpunkte der Außenpoliti k - mehr geht kaum. Und am Wochenende dann, in der Heimat: Feuerwehrfeste, Jubiläen, Firmenbesuche. Der Bad Salzufler liebt diesen Job und sieht in der vermeintlichen Diskrepanz gar keine: "Es geht immer um für den Einzelnen relevante Fragen. Eine Kita-Bedarfsplanung, ein fehlender Spielplatz haben konkrete Auswirkungen auf das Leben vor Ort. Und das will ich weiter mitbekommen. Im Bundestag entscheide ich über Fragen, die 80 Millionen Deutsche betreffen. Das ist ja keine Zahl, das sind ja konkrete Menschen."

"Wer leuchten will, muss selber brennen" Wenn er zu Hause als stellvertretender Landrat unterwegs sei, dann werde Politik bei jedem Menschen real. "Sie zu treffen, in ihrer ganzen Vielfalt, das ist mir wichtig." Das hat er in seinem früheren Leben als Richter gelernt: im Austausch mit den Menschen sein, zuhören, dann rational entscheiden. "Wer leuchten will, muss selber brennen", zitiert er einen Satz von Charles Crodel, eingefügt in ein Mosaik am Jakob-Kaiser-Haus, an dem er häufig vorbeikommt. "Der Satz gibt mir Kraft."

Und wann schaltet er ab? "Schwierig", antwortet Robin Wagener. Am Wochenende mit der Familie, am Montagmorgen, wenn es die Zeit erlaubt, beim Karate in Bad Salzuflen. Den einen Termin noch, das eine Telefonat ... Da kann er nicht immer Nein sagen. Lokalpolitiker ist er ja auch noch. Großes Thema im Moment als Fraktionschef in der Landesverbands-Versammlung: der Zustand des Norderteiches . Auch dazu kann Wagener im fernen Berlin detailliert etwas sagen und kommt zu dem Schluss: "Wir brauchen da die Expertise von Fachleuten. Was ist das beste für Artenvielfalt und Naturschutz?"

Er sei oft müde, ja, und esse nicht unbedingt gesund. Aber die Wissbegierde übersticht die Müdigkeit. "Ich habe es überhaupt noch nicht bereut, keinen Tag. Ich bin dankbar für die Chancen, die ich hier habe."

Wie es den Bundestags-Neulingen aus Lippe nach einem Jahr ergeht

In der Schusslinie: Was auch lippische Kandidaten so aushalten müssen

Meinung: Die Wähler in Lippe haben die SPD regelrecht gerupft

So erlebten lippische Abgeordnete die (Ab-)Stimmung im Bundestag - und danach

Türchen 13 im LZ-Adventskalender: Hier befinden sich Weihnachtsbäume im Höhenflug

Endlich geht es los: So startet der 20. LZ-Cup am Sonntag und so geht es weiter

„Die Engel backen Plätzchen“: So schön ist der Winterhimmel über Lippe - viele Fotos

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Weiterlesen mit LZplus!

0,99 Euro im ersten Monat

Weiterlesen mit LZplus