Senioren am Steuer: Darum ist ein Detmolder Arzt für regelmäßige Checks

Kreis Lippe. Das Thema ist kontrovers und emotional. Es geht ums Autofahren, ums Altern und um den möglichen Verlust der Fahrerlaubnis, was auf dem Land mit Selbstständigkeit gleichzusetzen ist. Und doch: Trotz aller Kritik an dem EU-Vorstoß, ältere Verkehrsteilnehmer alle fünf Jahre verpflichtend auf ihre Fahrtauglichkeit überprüfen zu lassen, scheint es auch medizinische Gründe zu geben, die dafür sprechen.

Zwar zitiert die Deutsche Verkehrswacht internationale Studien, nach denen das Alter kein erhöhtes Unfallrisiko bedeutet. Aber die Verkehrsexperten relativieren diese Aussage: Das ändere sich, wenn krankheitsbedingte Einbußen der Leistungsfähigkeit nicht mehr durch eine entsprechende Anpassung des Verhaltens kompensiert werden könnten.

Ab 75 Jahren häufen sich Unfälle &bdquo;Ab welchem Alter im Einzelfall die Einbußen so stark sind, dass eine Fahreignung nicht mehr gegeben ist, ist individuell unterschiedlich“, unterstreicht Dr. Jörg Kühne, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Verkehrsmedizin aus Detmold. Doch untermauere die Statistik, dass ab dem Alter von 75 Jahren das Thema eine besondere Relevanz erlange. Zu der EU-Planung hat Dr. Kühne daher eine klare Meinung: Wenn eine Überprüfung der Fahrtauglichkeit alle 15 Jahre für alle Autofahrer beschlossen werde, sei es sinnvoll, dass diese ab einem Alter von 70 Jahren in verkürztem Turnus erfolge.

Als Verkehrsmediziner begutachtet Dr. Kühne Patienten im Hinblick auf ihre Fahrtauglichkeit. Die mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit nimmt laut dem Facharzt üblicherweise bis zum Alter von 30 Jahren zu und bleibt bis zu 60 Jahren ungefähr konstant. Danach aber nehme sie mit zunehmendem Alter ab: &bdquo;Dies hängt zusammen mit körperlichen und geistigen Veränderungen“, betont er.

Sehfähigkeit und Wahrnehmung nehmen altersabhängig kontinuierlich ab, während die geistigen Funktionen eher stufenweise nachlassen. &bdquo;Doch kompensieren ältere Autofahrer die nachlassende Leistungsfähigkeit durch Anpassung der Fahrweise.“ Erst ab der Altersgruppe ab 75 Jahren würden bedeutsame Unterschiede mit negativen Auswirkungen auf die Unfallstatistik deutlich, so dass diese Altersgruppe am Ende sogar ungünstiger abschließe als die Gruppe der Fahranfänger im Alter bis 25 Jahre.

Funktionen des Gehirns lassen nach Das liege im Wesentlichen daran, dass im Alter durch verschiedene Einflüsse bestimmte Funktionen des Gehirns, die Einfluss auf die Reaktionsfähigkeit haben, nachlassen, erläutert Kühne. Dazu zählten die Fähigkeit, mehrere Tätigkeiten gleichzeitig auszuführen, die Konzentrationsfähigkeit, akustische und optische Wahrnehmung, die Geschwindigkeit im Ablauf von Bewegungen und bestimmte Bewegungen wie das Drehen des Kopfes.

Oft sei die Ursache eine verminderte Durchblutung des Gehirns als Folge von Bluthochdruck, Diabetes, Nikotinkonsum, Fettstoffwechselstörungen oder Alkoholschäden. Hinzu kämen degenerative neurologische Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer, die ab gewissen Stadien zu recht deutlichen Einbußen der Kognition führten. Erkrankungen mit Abnahme von Hör- und Sehkraft sowie Verminderung der Beweglichkeit von Wirbelsäule und Gelenken spielten ebenfalls eine große Rolle.

Im Gegensatz zu jungen Fahrern zeichnen sich Senioren nicht durch riskante und unfallträchtige Fahrweisen aus. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil verunglücken Menschen ab 65 Jahren daher seltener bei Verkehrsunfällen als jüngere, betont die Deutsche Verkehrswacht. Andrerseits seien Senioren überproportional häufig in schwere Verkehrsunfälle verwickelt – wobei das Alter der Unfallverursacher nicht speziell ausgewiesen ist.

Weiteres Manko der Statistik: Sie nimmt nicht explizit die Menschen ab 75 in den Blick, sondern fasst unter dem Oberbegriff &bdquo;Senioren“ Personen ab 65 Jahren.Laut Statistischem Bundesamt verunglückten im Jahr 2021 45.123 Menschen dieser Altersgruppe im Straßenverkehr, 11.169 von ihnen wurden dabei schwer verletzt, 868 starben.

Jeder dritte Verkehrstote über 65 Damit lag ihr Anteil an allen Verunglückten im Jahr 2021 bundesweit bei bei 13,9 Prozent, in Lippe sogar bei 19,8 Prozent. Bei den Verkehrstoten waren es jedoch 33,9 Prozent, in Lippe sogar 44,4 Prozent (vier von neun Toten). Somit gehörte jeder dritte Verkehrstote zu dieser Altersgruppe. Natürlich hing dies nicht allein mit der Fahrweise zusammen, sondern vor allem auch damit, dass Unfallopfer über 75 Jahren besonders gefährdet sind, &bdquo;denn aufgrund nachlassender körperlicher Widerstandskraft sind die Folgen von Verkehrsunfällen mit zunehmendem Alter gravierender“, schreibt die Verkehrswacht.

Mehr Aussagekraft haben diese Zahlen: Sofern im Jahr 2021 über 74-Jährige als Autofahrende an einem Unfall beteiligt waren, trugen sie in drei Viertel (75,9 Prozent) der Fälle die Hauptschuld an dem Unfall, an dem sie beteiligt waren.

Typische Unfallursachen der Autofahrer ab 65 Jahren waren laut Statistik Fehler beim Abbiegen, Rückwärtsfahren, Ein- und Anfahren sowie Vorfahrtsfehler und mit Motorrädern nicht angepasste Geschwindigkeit und Abstandsfehler.

Unfälle auch als Fußgänger und Radfahrer Für den Kreis Lippe hat Polizeisprecherin Nina Ehm die Zahlen extrahiert: Seit dem 1. Januar 2021 bis Ende April diesen Jahres verzeichnete die Polizei in Lippe insgesamt 61 Verkehrsunfälle mit schwer verletzten oder getöteten Verkehrsteilnehmern, bei denen einer 75 Jahre oder älter war. Es gab laut Ehm vier tödliche Verkehrsunfälle, bei denen sechs Todesopfer zu beklagen waren, die 75 Jahre und älter waren. Zweimal waren Personen über 75 Jahre Unfallverursacher, zweimal Unfallgeschädigte. Und: Bei den verbleibenden 57 Verkehrsunfällen mit Schwerverletzten seien 18 mal Radfahrer und 15 mal Fußgänger beteiligt gewesen.

Auch hier gibt es alterstypische Ursachen - zum Beispiel können Ältere beim Fahrbahn queren möglicherweise die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge nicht richtig einschätzen. Als Rad- oder Pedelecfahren können verlangsamte Reaktion, Probleme mit dem Gleichgewicht, verschlechtertes Hör- oder Sehvermögen zu Unfällen führen, die zum Teil folgenschwer sind. Und oft werden dunkel gekleidete Senioren im Straßenverkehr nicht sofort gesehen.

Ein Fahrtauglichkeitscheck verhindert solche Unfälle nicht. Polizei und Kreisverkehrswacht machen verschiedene präventive Angebote wie Fahrrad- und Pedelecseminare oder aufklärende Vorträge.

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