Pastor Altevogt will ein Tabu brechen: „Mein Großvater gehörte zur Leitung eines KZ“

Lemgo. Das Foto liegt mitten auf dem Tisch. Der Mann darauf schaut direkt in die Kamera, sein Blick ist eindringlich. “Das isser. Mein Opa”, sagt Matthias Altevogt, und er spricht das Wort lippisch aus. Der &bdquo;Oppa”, das ist Erduin Schondorff. Ein Diplom-Ingenieur, Dozent am Technikum Lage, Wissenschaftler, strenggläubiger Christ, Vater dreier Kinder, darunter Altevogts Mutter Dorothee. Später dann: Mitglied der SS, Leiter des berüchtigten Klinkerwerks Oranienburg, einer Außenstelle des KZs Sachsenhausen. Eines sogenannten &bdquo;Todeslagers“, wo Tausende bei der Zwangsarbeit starben. Noch später: Verschollen in russischer Haft. &bdquo;Diese Geschichte war immer wie eine dunkle Wolke“, sagt Altevogt, seit 2003 Pfarrer der Kirchengemeinde St. Marien in Lemgo. &bdquo; Ich hätte nie gedacht, noch so viel herauszufinden. Doch je länger es her ist, umso leichter ist es. ”

Wo einsteigen in eine Geschichte, die so voller Daten und Fakten ist - und voller Emotionen? Vielleicht vor 80 Jahren, im Frühjahr 1945, am 20. März, kurz vor Kriegsende. Erduin Schondorff hatte seine Familie in Lage besucht. Der Abschied fiel schwer. Dass Deutschland den Krieg verlieren würde, war zu dem Zeitpunkt klar. Die Russen standen kurz vor Berlin. Und Schondorffs Familie hatte geahnt, dass es womöglich ein Abschied für immer sein würde. Die Familie wusste Bescheid: &bdquo;Er ist bei der SS, er ist beim Ziegelwerk, und da arbeiten Häftlinge. Das wussten sie.” Und: &bdquo;S ie haben ihn vergöttert. Toller Ehemann und Papa. War er bestimmt auch.“

&bdquo;Was haben sie gedacht?“ Altevogt deutet ein Schulterzucken an. Es ist diese Leerstelle, die er versucht hat, durch seine Recherchen zu füllen. Der Vater, den seine Mutter so sehr geliebt hat, der sein Leben nach christlichen Maßstäben ausrichtete. Und der SS-Mann, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitgetragen hat, der jahrelang auf seinem Posten blieb. &bdquo;Man rätselt immer: Was haben sie gedacht?“, sagt Altevogt. &bdquo;Wenn sie dabei waren, in Leitungsfunktion, wenn sie drin waren in diesem System. Das rätselt man.”

Altevogt nimmt die Postkarten in die Hand, die sein &bdquo;Oppa“ aus dem Internierungslager geschrieben hat. Die erste erhielt die Familie im Sommer 1946. &bdquo; Bin wohlauf. Sehnsucht Antwortkarte. Getrost mit Christbrüdern. Römerbrief 12, Vers 12.“ - Altevogt, der Theologe, schiebt ein: &bdquo;Der lautet ,Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet am Gebet.“ - Und weiter: &bdquo;Oranienburg ausgebombt. Schickt Bibel, Flickmittel, Nadeln, Waschmittel, Schuhe, entbehrliche Lebensmittel.” Oranienburg bei Berlin, das war der Standort des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Im dortigen Klinkerwerk hatte Altevogts Großvater seit 1939 gearbeitet. Bei Kriegsende hatten die Briten ihn mit dem gesamten flüchtigen Leitungsteam in Neumünster festgenommen.

&bdquo;Nach dem Zusammenbruch waren diese Postkarten das Zeichen: Er lebt. Das war für die Familie eine Riesen-Freude. Er ist in Gefangenschaft, aber er lebt.“ Etwa ein Jahr lang hielt der Kontakt, die Familie konnte sogar Päckchen schicken. Dann plötzlich - Funkstille. &bdquo;Meine Großmutter war wohl völlig hilflos“, berichtet Altevogt von den Erinnerungen seiner Mutter. &bdquo;Sie war wohl nicht sehr lebenstüchtig - und ihr Erduin hatte sich um so vieles gekümmert.“ Nun war er verschollen, was auch hieß: Kein Einkommen, keine Witwenrente. Erst 1960 erfuhr die Familie nach jahrelangen Nachforschungen, dass Erduin von den Briten als Kriegsverbrecher an die Russen, auf deren Besatzungszone das KZ lag, übergeben worden war und schon am 17. Februar 1948 &bdquo;während der Zeit der Stafverbüßung“ verstarb.

Altevogts Mutter war die älteste Tochter, bei Kriegsende vierzehn. Als er selbst ein Teenager war, gab es eine Phase, wo ihm deren Beschäftigung mit dem &bdquo;Nazi-Großvater“ zu viel wurde. In den 1980er Jahren hatte sich seine Mutter, damals bereits Witwe, intensiv mit dem Kriegsende auseinandergesetzt, sogar ein Buch geschrieben - und alles mit ihrem Sohn durchsprechen wollen. Er habe dann eine gesunde Distanz gefunden - &bdquo;es war ja nicht mein Vater“ -, bis ein Gespräch mit einem Lemgoer Historiker die Sache im Herbst 2024 wieder aufwühlte und er begriff, dass die offenen Fragen ihn belasteten.

Er begann zu recherchieren, wandte sich an das Bundesarchiv . &bdquo;Da kommt dann eine E-Mail: ,Wir h aben zu ihrem Großvater drei Akten gefunden, wollen Sie die haben? Gut, wir digitalisieren das.’ Nach ein paar Wochen ist alles da. ,Klicken Sie hier’, und plopp: Erduin Schondorff, Ernennung zum SS-Hauptsturmführer. Das haut einen um.“

Schleichende Verrohung Was für Altevogt ein weiterer Grund war, die Geschichte im Detail aufzurollen: Die deutsche Erinnerungskultur. &bdquo;Bei dem Thema ist viel geleistet worden, gerade auch in Lemgo, und da ist man mit Recht stolz darauf“, sagt er. &bdquo;Aber man kann damit nicht zufrieden sein.“ Meist gehe es um die Identifizierung mit den Opfern der NS-Zeit. &bdquo;Diese Verleugnung der Täterschaft ist noch gar nicht richtig angegangen worden“, so der Pastor. Der übliche Sprachgebrauch sei: &bdquo;Die Nazis haben das gemacht. Das wirkt so, als wären es kleine braune Männchen, die 1945 wieder in ihr Ufo gestiegen und weggeflogen sind. Das finde ich nicht richtig.“

Denn &bdquo;die Nazis“, das waren Väter, Brüder, Tanten. &bdquo;Und es ist auch wichtig für die Prävention, sich anzuschauen: Wie funktioniert eigentlich so eine Diktatur? Nämlich so, dass man schleichend verroht.“ Auf dem Marktplatz &bdquo;nie wieder“ zu rufen, das reiche nicht. &bdquo;Wir müssen die Mechanismen besser verstehen. Das an uns heranlassen“, findet er. &bdquo;Doch die Dimension dessen, was unsere Familien getan haben, und dass es offensichtlich ziemlich leicht war, da mitzumachen - das haben wir uns noch nicht wirklich zugemutet.”

Eine Zumutung war die Beschäftigung mit dem Großvater zweifellos. Schondorff bekam 1 939 von der SS das Angebot, ein großes Ziegelwerk zu leiten. &bdquo;Die Frage innerhalb der Familie war: Soll er das jetzt machen oder nicht“, so Altevogt. &bdquo;Es gab auch Leute in der Verwandtschaft, die ihm abgeraten haben, sich mit der SS einzulassen. Aber er hat das gemacht.”

Aus heutiger Sicht glaubt Altevogt, dass der begabte Ziegelei-Ingenieur sich einen Karrieresprung erhoffte. &bdquo;Sicher auch ein deutlich besseres Gehalt - das möchte ich noch recherchieren, vielleicht anhand alter Unterlagen zum Technikum Lage. Denn Erduin musste noch lange Schulden seines Vaters abbezahlen, die dieser ihm aus einer Pleite in der Weltwirtschaftskrise hinterlassen hatte. “ Vermutlich habe er auch die reelle Chance gesehen, seine bisher vor allem in Fachaufsätzen dargelegten Methoden in der Praxis umzusetzen. Schondorff hatte Versuche in der Ziegelei Dörentrup angestellt, Patente angemeldet zu neuen Verfahren, und in einem eigenen Beratungsbüro Studenten beschäftigt. In Oranienburg hatte die SS laut Altevogt &bdquo;im Größenwahn der Zeit ein riesengroßes neues Ziegelwerk hingesetzt und eine neuartige Technik einbauen lassen, aber es funktionierte nicht. Millionen waren in den Sand gesetzt. Deswegen haben sie ihn eingestellt. Er sollte das technisch retten und komplett umbauen.“

Es gibt nichts Entlastendes Aus den Erzählungen seine Mutter weiß Altevogt, dass sie wohl bei den Heimatbesuchen des Vaters lange Spaziergänge mit ihm gemacht hat. &bdquo;Da habe er so etwas gesagt wie: ,Das ist nicht gut mit den Häftlingen. Ich muss da weg, und wenn der Krieg zu Ende ist, dann gehe ich da weg. Dann führen wir ein normales Leben.’” Er sei bedrückt gewesen, &bdquo;das schon”. Hat er sich selbst dabei ertappt, bei seinen Recherchen nach Entlastendem zu suchen? &bdquo; Nein“, sagt Altevogt bestimmt. &bdquo;Es war klar und wurde immer deutlicher, dass es nichts Entlastendes gibt.”

Matthias Altevogt hat Zeitzeugenberichte gelesen, &bdquo;ganz drastische“, wie es in diesem Klinkerwerk zuging. &bdquo; Die Brutalität war in vollem Gange. Wie die Häftlinge zu Tode gequält und erschossen wurden. Menschen, die in der Halle gearbeitet haben, für die mein Großvater verantwortlich war. Er wusste, was er tat. Da war er mittendrin, hautnah, jeden Tag ist er dazwischen herumgelaufen und hat An weisungen gegeben. Er war der Chef. Nicht von den Wachmannschaften, aber von der Ziegelei selbst.” So war das Arbeitskommando &bdquo;Klinker“ bei den Häftlingen besonders gefürchtet, da es durch Erschöpfung und Misshandlungen fast täglich zu Todesfällen kam.

&bdquo;Da heult man“ Das Entlastende sei eher, &bdquo;dass es jetzt scharfe Konturen gibt“. Klarheit darüber, wie furchtbar das alles war. &bdquo;Da heult man und fragt sich, ob man noch depressiv wird über der ganzen Geschichte. Es beschäftigt einen tagelang.“ Dann jedoch stelle sich ein entlastender Effekt ein. Wie ein Aufatmen. &bdquo;Ich denke, es hat eine heilende Wirkung, wenn man sich dem stellt.“ Genau das habe die Generation seiner Mutter noch nicht in vollem Umfang gekonnt. &bdquo;Es gab diese Hoffnung, so ungefähr : Wahrscheinlich war da am äußersten Rande des Geländes ein Labor, und da war Erduin den ganzen Tag und hat nichts mitgekriegt“, vermutet Altevogt. &bdquo; Denn sich das in aller Härte klarzumachen, ist schwierig. Für mich etwas leichter , da ich ihn nicht persönlich gekannt habe. Insofern ist das ein typischer Verlauf, dass man in der Enkelgeneration den Faden noch mal aufnimmt .”

Wichtiger als die persönliche Entlastung sind ihm allerdings die Opfer. Das Mindeste sei doch, sich das Grauen klarzumachen. &bdquo;Es ist schon eine Verpflichtung, finde ich.“ Altevogt plant, im Mai zur jährlichen Gedenkfeier der Befreiung des KZs zu reisen. &bdquo;Ich will versuchen, mit den wenigen ehemaligen Häftlingen zu sprechen, die noch leben. Und es gibt auch Nachkommen, die sehr aktiv sind.“ Die Historikerin einer anderen Gedenkstätte erläuterte ihm, dass die es sehr schätzen, wenn sich von den Nachfahren der Täter jemand melde und sich der Geschichte stellt. &bdquo;Ein harter Gang, na klar“, sagt Altevogt. &bdquo;Aber da muss man durch. Und als Pfarrer sehe ich mich auch in der Pflicht, hier ein Katalysator zu sein für Aufarbeitung und Versöhnung.“

Grabstein in Lemgo Matthias Altevogt ist noch nicht ganz am Ende seiner Recherchen angekommen. &bdquo;Es wäre schön, wenn ich mithilfe der Gedenkstätte noch herausbekommen würde, wo er vor Gericht gestellt wurde und wie das Urteil lautete. Und wo er dann hingebracht wurde“, sagt er. &bdquo;Aber es ist nicht lebenswichtig.“ Als seine Großmutter gestorben ist, im hohen Alter, da habe die Familie den Großvater in Lemgo mit auf den Grabstein geschrieben.

Erneut hat Altevogt das Porträtfoto in der Hand. Erkennt er selbst die Familienähnlichkeit, die einem Außenstehenden ins Auge fällt? &bdquo;Echt?“, fragt der Pastor und erscheint kurz ein wenig irritiert. Nein, das sei ihm nicht aufgefallen. &bdquo; Er ist natürlich der Fremde. Der, der im KZ war, bei der SS, und den man nicht gekannt hat. Darunter hatte meine Mutter so gelitten.“ Und da sind sie wieder, die widerstrebenden Emotionen. Der Oppa. Der &bdquo;tolle Vati“, der ergreifende Geburtstagskarten schrieb aus dem Internierungslager. Der &bdquo;gute Erduin“. Der renommierte, begabte Ingenieur und Wissenschaftler. Und der Kriegsverbrecher. Der Verurteilte. Der Nazi. Alles zusammen. Nicht leicht. Aber vielleicht die ganze Geschichte.

Matthias Altevogt freut sich über Kontakt zu Menschen, die sich auf Spurensuche gemacht haben oder es gern würden. Er gibt auch Tipps. E-Mail an: MatthiasAltevogt@web.de.

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Information

Das Buch von Matthias Altevogts Mutter Dorothee trägt den Titel &bdquo; Wenn alles in Scherben fällt: Eine Kindheit im 3. Reich; Szenen aus Ostwestfalen“ und wurde 1991 unter dem Pseudonym Katharina Köhnen veröffentlicht. Es ist antiquarisch erhältlich.

Service

Die ersten Schritte zur Recherche finden Sie hier in einem Infostück zusammengefasst .

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