Detmold/Lage. Als der Notarzt kommt, ist die 27-jährige Lagenserin schon fast tot. Ihr Mann hatte gerade noch rechtzeitig die 112 gewählt. Doch das Landgericht ist überzeugt: Er hätte dies schon viel eher machen sollen. Es hat den 29-Jährigen am Montag wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen zu zwei Jahren Haft auf Bewährung erurteilt.
Die Staatsanwaltschaft hatte den Lagenser wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen angeklagt: Er soll sehenden Auges zugelassen haben, dass seine damalige Frau verhungert. Die Große Strafkammer unter Vorsitz Anke Gruddas hört zwei völlig unterschiedliche Beschreibungen des gleichen Ehelebens. Die heute 27-Jährige schildert einen Horror-Alltag und zeichnet das Bild eines jähzornigen Mannes, dem sie sexuell „parieren" musste. Eines Kontrollfreaks, der jede Kartoffel abzählt, jeden Schokoriegel inventarisiert. Der „einem" die Schuld an schlechten Noten zuschiebt, weil „man" die Facharbeiten ja Korrektur gelesen hatte, der das Auto nicht hergibt, sich nicht um die Kinder kümmert. „Man wusste, man wird bestraft. Egal, was man machte. Ich hatte keine Kraft mehr". Zwischendurch verlässt sie dann doch das schützende „man" und benutzt die Ich-Form.
Sie wurde mit der Zeit dünner und dünner, ausgemergelter und ausgemergelter. Warum sie denn nicht hat ausbrechen können, fragt Richterin Grudda. Dies hätte schon viele immer wieder gefragt – „doch ich sah mich zu nichts in der Lage". Gerichtsmediziner Dr. Bernd Karger aus Münster stellt klar: „Eine so extreme Unterversorgung bleibt nicht verborgen."
Rechtsmediziner Dr. Bernd Karger sprach von „präfinaler Auszehrung" – die Frau sei kurz davor gewesen, zu verhungern. „Sie hatte extremes Untergewicht, wog unter 34 Kilogramm. Als sie ins Krankenhaus kam, war sie lethargisch und apathisch, mit 33,4 Grad Körpertemperatur stark unterkühlt." Diese Kälte hätte der Angeklagte bei bloßer Berührung bemerken müssen. Dr. Karger sprach von schwachem Blutdruck und extrem niedrigen Blutzuckerwerten. „Das ist ein hochkritischer Zustand. Da muss normalerweise jeder Alarm schlagen." Dies hätte bereits nachts um 2 Uhr auffallen müssen – da hatte ihr Mann ihr eine Cola gebracht, die ihr vor Schwäche aus der Hand gefallen war. Dass die Frau sich am Tag vor ihrer Einlieferung ins Klinikum „normal", wie vom Mann berichtet, um Haushalt und Kinder gekümmert haben könnte, sei absolut ausgeschlossen.
Der Ex-Mann malt ein ganz anderes Bild, nur die positive Schilderung des ersten Ehejahres deckt sich. Dan geht es weit auseinander. Er habe ihr die Arbeit mit den Kindern gerne abgenommen, sie habe sich nur das Beste kaufen können – wenn sie schon so wenig äße, sei ihr das doch wohl gegönnt? Er habe sich Sorgen gemacht, weil sie so viel abgenommen habe, ihr Decken gebracht, wenn sie fror, auf Sex verzichtet, weil sie ja so schwach war. „Niemals habe ich ihr Essen eingeteilt", betont der angehende Lehrer. Fieber und Blässe an seiner Frau habe er nicht bemerkt. Dass sie an Durchfall und Erbrechen litt – darauf habe er nicht geachtet. Schließlich sei er ja selbst ausgebrannt und erschöpft von seinem Referendariat gewesen. Später, in der Reha, habe er seiner Frau Lebensfreude vermitteln wollen, sie täglich besucht.
„Es fällt schwer, Ihnen zu glauben", sagt Richterin Grudda, und Oberstaatsanwalt Christopher Imig wird sauer: „Ihre Frau trinkt und isst nicht, hat Durchfall – das merken Sie nicht? Haben Sie nur auf Ihr PC-Spiel geachtet?" Die beiden sind längst geschieden, die Kinder beim Vater. Die Ehegeschichte spielt für die strafrechtliche Beurteilung keine Rolle. Das Gericht ist sicher: Der Lagenser sei verpflichtet gewesen, die Ärzte eher zu alarmieren. Weil er es jedoch überhaupt gemacht hat, sieht das Gericht keinen versuchten Totschlag durch Unterlassen.
Imig hatte auf drei Jahre Haft plädiert, zeigte sich dennoch zufrieden. Egon Penner, Rechtsanwalt des Lagensers, forderte Freispruch, sein Mandant habe ja den Arzt gewählt. Er kündigte Berufung an.