Zwischen Tütenrascheln und Tannenduft: Wie die Bahnhofsmission in Lage hilft

Lage. Zunächst ist da nur ein leises Rascheln: Plastiktüten, Kartons, Schritte auf dem Boden. Aus dem Radio klingt Weihnachtsmusik, daneben glitzert ein geschmückter Tannenbaum. Es ist Mittwochnachmittag in der Bahnhofsmission – einem großen Raum mit Küchenzeile, Tischen und Stühlen am Lagenser Bahnhof. Zeit für die Lebensmittelausgabe.

Volker Hansmann öffnet den Kofferraum seines blauen Autos. Der 70-Jährige trägt eine Weste über dem Pullover, greift routiniert nach den Tüten mit Lebensmitteln und trägt sie in die Räume der Bahnhofsmission. Seit zwei Jahren fährt er jeden Mittwoch unterwegs, um Spenden einzusammeln. &bdquo;Heute ist es leider nicht so viel“, sagt er und blickt auf Kuchenböden, Joghurt, Wurst und weitere Lebensmittel, die auf den Tischen verteilt stehen. Rund 70 Prozent der wöchentlichen Spenden kommen vom Marktkauf.

Fast vier Jahrzehnte arbeitete Hansmann als Sozialarbeiter in der Detmolder Einrichtung &bdquo;Herberge zur Heimat“. Auf eine Anzeige in der Lippischen Landes-Zeitung meldete er sich nach seinem Renteneintritt bei der Bahnhofsmission. Seine Motivation fasst er knapp zusammen: &bdquo;Weil es mir Spaß macht und es ein schönes Gefühl ist, zu helfen.“ Manche Menschen können aus gesundheitlichen Gründen nicht selbst zur Bahnhofsmission kommen – ihre Lebensmittel werden ihnen nach Hause gebracht.

Die Dienste der Bahnhofsmission Die Bahnhofsmission Lippe in Lage wurde 2016 gegründet und liegt am Sedanplatz 11, direkt am Bahnhof. Sie ist Anlaufstelle für Reisende und Menschen in Not. Hier gibt es Hilfe beim Ein-, Aus- und Umsteigen, einen warmen Aufenthaltsraum, Getränke, Kleidung und Gespräche. Geöffnet ist montags bis freitags von 8 bis 18 Uhr.

Während die Lebensmittel vorbereitet werden, packt Melanie Schabacker die Tüten. Sie hat bei der Bahnhofsmission eine sogenannte Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung gefunden, auch als &bdquo;Ein-Euro-Job“ bekannt, wie sie erzählt. Die Abläufe sitzen. In jede Tasche kommt ungefähr die gleiche Menge. Neue Plastiktüten werden nicht mehr ausgegeben. &bdquo;Der Umwelt zuliebe müssen die Leute ihre eigenen Taschen mitbringen“, sagt Schabacker. Anfangs habe man Tüten noch verteilt, verbunden mit der Bitte, sie wieder mitzubringen. Als das nicht funktionierte, sei die Regel verschärft worden: Lebensmittel gibt es nur noch mit eigener Tasche – seitdem klappt es.

Nicht jeder freut sich gleichermaßen über die Lebensmittel. &bdquo;Wir haben schon erlebt, dass Lebensmittel vereinzelt in die umliegenden Mülleimer geworfen wurden“, sagt Schabacker kopfschüttelnd. Sie vermutet, dass manche befürchten, künftig weniger zu bekommen, wenn sie bestimmte Dinge nicht annehmen. Das sei jedoch nicht der Fall. Rund 20 gefüllte Tüten stehen bereit und warten darauf, um 16.30 Uhr ausgegeben zu werden.

Jeder fünfte Einwohner von Armut bedroht Wer Unterstützung erhalten will, muss einen gültigen Sozialleistungsbescheid – etwa Bürgergeld oder Grundsicherung – vorlegen und wird in einer Kartei geführt. Es sind Menschen, die auf diese Hilfe angewiesen sind. Bundesweit waren 2024 rund 17,6 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht – etwa jeder fünfte Einwohner. Zahlen, die sich auch hier widerspiegeln.

An diesem Tag gibt es mehr als Lebensmittel. Neben den Tüten liegen selbst gestrickte Socken, Mützen und Schals auf einem Tisch, gespendet von einer Lagenser Kirchengemeinde. Davor hat sich bereits eine kleine Schlange gebildet. Meist ältere Menschen, vor allem Frauen. Auf jeder Tasche steht ein Name.

&bdquo;Jeder, der hier steht, hat seine eigene Geschichte“, sagt Paul Martens, Bereichsleitung in der Stiftung &bdquo;Herberge zur Heimat“, zu der die Bahnhofsmission in Lage gehört. Die Wege reichten vom einstigen Unternehmer mit gutem Einkommen, der dann doch alles verlor und völlig abstürzte. Martens spricht ruhig, fast sanft. Seine schwarzen Brillengläser rahmen freundliche Augen. Zum Beruf des Sozialarbeiters sei er über seinen Zivildienst gekommen. Damals habe soziale Arbeit auch bedeutet, gemeinsam mit Klienten Wohnungen zu tapezieren. Heute sei das anders. Auf die Frage, wie er die Bahnhofsmission beschreiben würde, antwortet er: &bdquo;Ein unbürokratischer Anlaufpunkt, völlig unabhängig von der Lebenssituation. Hier ist jeder willkommen.“

Für viele reicht die Rente nicht zum Leben Ob das Durchschnittsalter der Besucher in den vergangenen Jahren gestiegen sei? &bdquo;Ja“, sagt Martens. &bdquo;Das Rententhema ist ja dieser Tage in aller Munde.“ Altersarmut ist in Deutschland ein wachsendes Problem. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes galt 2024 jede fünfte Person ab 65 Jahren als armutsgefährdet – ihr Einkommen lag unter 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung. Besonders betroffen sind Frauen. Insgesamt sind rund 3,5 Millionen Menschen ab 65 Jahren armutsgefährdet. Zahlen, die zeigen, wie wichtig Angebote wie die Bahnhofsmission geworden sind, weil die Rente für viele nicht ausreicht.

Seit mehreren Jahren ist Nadia Einloft Team-Koordinatorin der Bahnhofsmission in Lage. In dieser Position bekomme sie vieles mit, sagt sie: &bdquo;Wie es den Menschen geht und was sie beschäftigt.“ Aber auch, wie psychische Erkrankungen entstehen oder sich verschärfen können. Der Beruf mache ihr dennoch Spaß – wegen der sozialen Teilhabe und weil aufeinander geachtet werde. &bdquo;Hier ist immer jemand für den anderen da“, sagt sie.

Als die letzte Tüte ausgegeben ist, wird es still. Kein Rascheln mehr. Stattdessen sitzen die Helferinnen und Helfer bei einer gemeinsamen Kaffeepause zusammen. Es wird gelacht. Für einen Moment ist Zeit zum Durchatmen – bevor draußen am Bahnhof der Alltag weiter rauscht.

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