Lemgo. Wie ihm die Situation als erfahrener Pfleger derart aus den Händen gleiten konnte, kann der 62-Jährige nicht erklären. „Ich muss das vor mir selbst und auch hier einräumen: In einem Moment des Stresses habe ich körperliche Gewalt retourniert“, sagt der Angeklagte. Der betroffene Patient hatte nach dem Vorfall am 12. Juli 2024 auf der Station am Krankenhaus in Lemgo zwei blaue Augen. „Die Folgen für das Opfer habe ich gar nicht kommen sehen“, sagt der Angeklagte. „Ich war geschockt.“ Zuvor hatte der 80-Jährige selbst um sich geschlagen und getreten, während der Angeklagte gegen 21.20 Uhr seinem Kollegen dabei helfen wollte, den Patienten im Bett aus seiner unbequemen Position zu befreien und aufzurichten. Das ist in der Beweisaufnahme unstrittig. Die Situation eskalierte allerdings. Und das, obwohl der Angeklagte 30 Jahre Pflegeerfahrung im Intensivbereich hat, sagt er selbst. „Das ist nicht die erste Situation gewesen, in der jemand aggressiv reagiert hat.“ Nach dem Vorfall wurde der Pfleger vom Klinikum suspendiert. Patient hat nach Vorfall Hämatome im Gesicht Ein Jahr später sitzt der Lemgoer wegen vorsätzlicher Körperverletzung vor Richter Prof. Dr. Florian Hobbeling auf der Anklagebank. Der 62-Jährige räumt einen Schlag ein, kann sich an weitere nicht erinnern. Sein Kollege ist dagegen überzeugt, drei oder vier Klatschgeräusche mitbekommen zu haben, als er den Patienten festhielt. Danach seien die Augenlider des unter Betreuung stehenden Seniors angeschwollen. „Alle waren geschockt.“ Einen Abend zuvor soll der Angeklagte bereits eine ähnlich anspruchsvolle Situation mit dem per Trachealkanüle beatmeten Patienten erlebt haben. Dabei hatte man ihn fixieren müssen. Sein Bauchgefühl habe ihm daraufhin geraten, Abstand zu nehmen, sagt er vor Gericht. Das hätte aber innerhalb der Teamabsprachen nicht funktioniert. Das Opfer selbst erscheint zum Prozess nicht. Den betreuten Mann vorführen zu lassen, hält niemand für sinnvoll. Wenn es nach Staatsanwalt Moritz Lange gegangen wäre, hätte es der Fall an diesem Donnerstag nicht in die Hauptverhandlung geschafft, sondern wäre vorab gegen eine Geldauflage eingestellt worden. Der Richter hatte wegen der Schwere der Vorwürfe aber nicht darauf verzichten wollen, sich in der Beweisaufnahme selbst ein Bild zu machen. Richter: „Sie haben versagt“ „Sie haben versagt - als Pfleger“, lautet Hobbelings Fazit. „Das habe ich als Richter auch schon mal.“ Am Ende stellt der Vorsitzende das Verfahren daher doch nach Paragraf 153a mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gegen eine Geldauflage von 1000 Euro ein. Die Summe soll der International Police Association (IPA) mit Verbindungsstellen in Lemgo und Detmold zugutekommen. Nur Verteidiger Hans-Georg Kolowrat zögert kurz, schließlich hatte Staatsanwalt Lange ursprünglich 500 Euro angepeilt. Sein Mandant habe durch den Jobverlust dazu einen enormen finanziellen Schaden erlitten. „Für mich steht auch immer noch eine Notwehrsituation im Raum“, sagt der Verteidiger. Dass Pflegekräfte nicht alles über sich ergehen lassen müssen, da geht auch der Richter mit. „Aber für mich wäre eine Notwehr nach dem ersten Schlag vorbei gewesen“, erklärt Hobbeling. Bevor der Vorsitzende also doch ein Urteil fällen muss, stimmt die Verteidigung dem Vorschlag ebenfalls zu. Zwischen den Zeilen geht es um mehr. Richter Hobbeling macht deutlich, nicht nachvollziehen zu können, weshalb das Klinikum die Polizei erst am Folgetag angefordert hatte. „Da wird nachts um 21.20 Uhr ein Patient geschlagen und die Polizei erfährt davon aber erst am nächsten Tag um 14.15 Uhr“, sagt Hobbeling. „Was muss denn noch passieren, damit man die Polizei ruft?“ Strukturelle Schwachstellen? Ob der Angeklagte mit der Situation überfordert gewesen wäre, will der Richter ebenfalls wissen. „In dieser Situation nicht, aber wir haben schon Überlastungsanzeigen geschrieben“, sagt der Angeklagte. „Wie reagiert das Klinikum darauf?“, fragt der Richter nach. „Eher gar nicht“, sagt der Angeklagte. „Das kann ich ja jetzt sagen.“ Es gehe dabei immer eher um eine rechtliche Absicherung, falls wirklich etwas passiere. „Das vorsorglich etwas verbessert wird, kann man nicht erwarten.“ Staatsanwalt Moritz Lange erklärt mehrfach, die richterlichen Umfeldermittlungen für nicht zielführend zu halten. Sie würden nicht dabei helfen, den Sachverhalt aufzuklären. „Wir haben immer einen besonderen Blick aufs Klinikum“, sagt Lange. „An dieser Stelle wird das dem Angeklagten nicht gerecht.“ Die Einstellung des Verfahrens wirke vielleicht auf den ersten Blick milde, meint Lange, aber „ich kann mir auch die Stresssituation vorstellen.“ Für den Richter dagegen ist vor allem entscheidend, ob der Vorfall durch strukturelle Probleme begünstigt worden sei. Das gehört ebenfalls aufgeklärt.