Lemgo. Der tödliche und offenbar völlig willkürliche Messerangriff auf einen 16-Jährigen in einem Supermarkt in Brake lässt viele Fragen offen. Eine schwebt über allem: Wie kann es sein, dass ein 33-Jähriger einfach grundlos auf einen Jugendlichen losgeht, den er nicht einmal kennt? Laut Staatsanwalt Alexander Görlitz steht ein mögliches Drogenproblem des Beschuldigten im Raum. Darauf weisen auch ältere Urteile hin. Die Ermittler prüfen daher, ob der Mann die Tat möglicherweise im Rausch oder Wahn begangen haben könnte. Eine sichere Erkenntnis dazu wird es laut Staatsanwaltschaft erst in einigen Wochen geben, wenn die am Tatort genommene Blutprobe ausgewertet ist. Das Ergebnis soll einen Erklärungsversuch für eine Tat liefern, die niemand verstehen kann. Dabei wird am Ende auch das Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen eine Rolle spielen. Aber weshalb werden Menschen durch den Konsum illegaler Substanzen gefährlich? Und wie häufig kommt das vor? Experten und Fachstellen aus Lippe - wie die Drogenberatung und hier praktizierende Ärzte - beobachten schon länger, dass der Konsum bestimmter Substanzen verstärkt sogenannte drogeninduzierte Psychosen auslöst - und damit auch das mögliche Gewaltpotenzial bei Konsumentinnen und Konsumenten steigt. Aufputschende Substanzen mit Risikofaktor Gerade aufputschende Substanzen wie Ecstasy, Crack, Kokain und Amphetamine förderten dabei unter dem direkten Einfluss aggressives Verhalten, sagt der Detmolder Allgemeinmediziner und Leiter der regionalen Ärztekammer Karl Arne Faust. Ob daraus anhaltende Erkrankungen entstünden, sei hingegen unterschiedlich. Faust gehört zu den wenigen substituierenden Ärzten in Lippe, versorgt Süchtige mit dem Ersatzstoff Methadon, und kennt sich daher sowohl mit Substanzen als auch mit der hiesigen Szene aus. Drogenkonsum könne gerade bei dafür sensiblen Menschen Psychosen auslösen, das sei Fakt. „Allerdings gibt es keine Regel, welche Menschen betroffen sind“, sagt der Mediziner. „Es gibt Menschen, bei denen Drogenmissbrauch keine Psychosen auslöst - und es gibt Menschen, die bereits nach einmaligem Konsum anhaltend psychotisch reagieren.“ Dabei könnten auch vermeintlich harmlose Substanzen wie Cannabis langfristig anhaltende Psychosen auslösen – wenn, dann meist in Form von Ängsten und Depressionen. Manchmal entwickele sich die Psychose in Form einer Schizophrenie und gehe mit dem Hören von Stimmen als typisches Symptom einher. „Wenn befehlende Stimmen übermächtig werden, kann das auch aggressives Verhalten und Gewalt nach sich ziehen“, sagt Faust. Machtübernahme der Taliban in lippischer Drogenszene spürbar Das Problem sei, dass sich der Konsum verlagert habe - auch in Detmold, das als zentraler Treffpunkt der lippischen Drogenszene gilt. Klassische Drogen wie Heroin spielten durch den Wegfall wichtiger Anbaugebiete seit der Machtübernahme der Taliban immer weniger eine Rolle, erklärt Faust. Da der Nachschub von Heroin erheblich eingebrochen sei, weiche die Szene auf andere Drogen aus. Von Kokain - der klassischen Partydroge als Einstieg - führe der Weg dann schnell zu wirkungsvolleren Substanzen wie Crack. „Das ist zwar preiswert, hat aber auch eine kurze Wirkungsdauer“, sagt Faust. Hier liege schon ein Problem: „Die Zeiten zwischen dem einen und nächsten Konsum sind extrem verkürzt. Die Menschen verfallen daher in kürzester Zeit dramatisch.“ Ein Teufelskreis, den auch Dr. Ralf Marquard in der Psychiatrie erlebt. Laut dem Chef des gemeindepsychiatrischen Zentrums (GPZ) in Detmold passt ein Akt der Brutalität und Willkür wie in Lemgo ins typische Bild einer psychotischen Störung. Marquard und sein Team sind häufig selbst mit Gewalt konfrontiert, wenn es um den Kontakt zu konsumierenden Patientinnen und Patienten geht. „In einem psychotischen Zustand kann es sein, dass jemand gar nicht berechenbar ist“, sagt Marquard. Diese Situationen richtig einzuschätzen, sei selbst für das professionelle Team nicht leicht. Gewalt zu erfahren, gehöre daher leider zum Psychiatriealltag - gerade wenn es drogeninduzierte Psychosen betreffe. „Ich habe das subjektive Gefühl, dass es mehr wird“, sagt Marquard. Dass die Wirkung von Substanzen Gewalttaten auslösen können, sei ein generelles Problem. Weil bestimmte Substanzen den Stoffwechsel im Nervensystem dazu nachhaltig durcheinanderbrächten, erklärt der GPZ-Chef, hielten derartige Psychosen mitunter ein halbes Jahr an, selbst wenn der Körper die Substanz nicht mehr erhalte. „Deshalb kann man eine von Drogen unabhängige Schizophrenie erst ein halbes Jahr später sicher diagnostizieren.“ Die häufigste Droge, die unmittelbar mit Gewalttaten zusammenhänge, sei aber nach wie vor der Alkohol, sagt der GPZ-Chef. Keine Ängste schüren Delikte in Bezug auf illegale Substanzen hätten mehr mit Beschaffungskriminalität oder Streitigkeiten innerhalb der Szene zu tun. Das beobachtet auch Saskia van Oosterum, Leiterin der Drogenberatungsstelle in Detmold. Auch wenn zentrale Treffpunkte wie der Lustgarten vielen nicht ins Stadtbild passten, gehe von den Konsumenten grundsätzlich keine Gefahr aus. „Da spielen sich generell keine Szenen ab, die gewalttätig sind. Konsumenten greifen in der Regel keine Menschen an, eher kommt es untereinander zu Streitigkeiten oder es gibt Probleme mit Dealern.“ Saskia van Oosterum warnt daher davor, vorschnell das Bild zu zeichnen, man müsse vor Drogenkonsumierenden Angst haben. „Es werden immer Ängste geschürt, aber man sucht gar nicht erst nach Lösungen.“ Die aktuelle gesellschaftliche Debatte - beispielsweise wenn es um das Bürgergeld gehe - spiele die Ärmsten gegen die Armen aus. „Es ist ein Trugschluss zu glauben, wenn wir im Sozialen alles abbauen, wird es besser.“ Um wirklich etwas zu verändern und gegen Drogenmissbrauch vorzugehen, müsse mehr in Kinder und Jugendliche investiert sowie Prävention vorangetrieben werden, sagt die Diplom-Pädagogin. Diesen Aspekt hebt auch der GPZ-Leiter hervor. „Das ist die einzige Möglichkeit, bei der wir ansetzen können“, sagt Marquard. Andernfalls lassen sich Taten wie in Lemgo kaum verhindern.