Fall Lügde: Ex-Polizeichef aus Lippe ist "menschlich enttäuscht"

Düsseldorf. Im Zuge der Ermittlungen zum Missbrauchskomplex von Lügde mussten so einige Köpfe rollen. Einer war der von Bernd Stienkemeier. Der damalige Polizeichef in Lippe musste gehen, als die schweren Missbrauchsfälle bekannt wurden – und mit ihr die vielen Behördenfehler. Zweieinhalb Jahre später meldet sich der heute 62-Jährige erstmals wieder zu Wort.

&bdquo;Ich habe heute das erste Mal die Möglichkeit, Stellung zu beziehen", sagte Stienkemeier am Freitag im Untersuchungsausschuss des Landtags. Am 26. Februar 2019 wurde Polizeidirektor Stienkemeier von NRW-Innenminister Herbert Reul versetzt, mit der Begründung, dass die Polizei in Lippe nach zahlreichen Behördenfehlern einen Neuanfang brauche. Seitdem hätten Reul und Lippes Landrat Axel Lehmann mit ihm &bdquo;kein einziges Wort" gesprochen, berichtete der 62-Jährige mit leiser Stimme, ohne dabei vorwurfsvoll zu klingen. "Seit dem 26. Februar bin ich von niemandem angesprochen und unterstützt worden."

Stienkemeier war 43 Jahre lang für die Polizei tätig, in verschiedenen Leitungsfunktionen. Dass er keine Möglichkeit gehabt habe, Stellung zu beziehen und man sich bei ihm seitdem noch nicht einmal erkundigt habe, wie es ihm gehe, das habe ihn tief berührt und sein &bdquo;Grundvertrauen in Verwaltung und Rechtsstaatlichkeit erschüttert", sagte der ehemalige Polizeichef und fügte an: &bdquo;Von der menschlichen Enttäuschung ganz zu schweigen." Seit Juli ist er im Ruhestand. Natürlich habe er sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren selbst reflektiert und gefragt, was anders hätte laufen müssen, schilderte Stienkemeier. "Wenn sich der eigene Minister öffentlich hinstellt und von einem Behördenversagen an allen Ecken und Enden spricht, dann hinterfragt man sich."

"Mussten keinen Hilfeschrei loswerden" Die Ausschussmitglieder wollten in der Zeugenbefragung im Düsseldorfer Landtag wissen, wann, warum und wie es dazu kam, dass die Polizei Bielefeld Anfang Februar die Ermittlungen im Fall Lügde übernommen hatte. Stienkemeier berichtete ausführlich und geduldig, dass die Pressekonferenz am 30. Januar 2019 ausschlaggebend war, da danach deutschlandweit über die Vorfälle in Lügde berichte wurde. Er habe es seitdem für möglich und wahrscheinlich gehalten, dass Bielefeld die Ermittlungen übernimmt, doch eingefordert habe er das nie. &bdquo;Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir das Verfahren nicht im Griff haben und einen Hilfeschrei loswerden müssen."

Zugleich berichtete er, dass ihm die Kinnlade runtergefallen sei, als er eines Abends telefonisch erfuhr, dass Asservate, also Beweismaterial in einem Alukoffer und einer Mappe, in der Polizeibehörde nicht mehr auffindbar seien. Zu dem Zeitpunkt wurde bereits seit drei Wochen danach gesucht. &bdquo;Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es keiner für nötig empfunden hat, mich darüber zu informieren." Auf die Frage, ob er Fehler gemacht habe, antwortete er: &bdquo;Tiefgreifende Fehler habe ich nicht bei mir gefunden und die wurden mir auch nie eröffnet." Die Frage, warum er vom Ministerium versetzt wurde, könne er sich nicht erklären.

Zuvor hatte am Freitag auch Wolfgang Niewald als Zeuge im Ausschuss ausgesagt. Der 57-Jährige ist stellvertretender Behördenleiter der Polizei Bielefeld und Leiter der Direktion Kriminalität. Auch Niewald wurde rund drei Stunden lang danach befragt, wie es dazu gekommen war, dass die Bielefelder Polizei den Fall aus Lippe übernommen hatte. Niewald sagte, dass die Pressekonferenz Ende Januar etwas in ihm ausgelöst habe. Als er hörte, dass es um rund 1.000 Fälle gehen könnte, habe er gedacht: "Das ist vielleicht etwas zu groß für Lippe." Er habe deshalb Kontakt zum Landeskriminalamt (LKA) aufgenommen und dort mit dem späteren Lügde-Sonderermittler Ingo Wüst telefoniert, um darüber zu beraten, ob Lippe den Fall angesichts der Dimensionen nicht besser an Bielefeld abgeben solle. Anordnen könne das nur das LKA. So kam es dann auch.

"Zunächst keine Sorge gehabt" Niewald betonte, dass er die Lipper Polizeibehörde stets als leistungsfähig wahrgenommen habe, die sich im Vergleich zu anderen Behörden nur selten an die Bielefelder Kollegen gewandt habe. Als die ersten Informationen zum Fall Lügde eintrudelten und nach einem Gespräch mit Stienkemeier am 10. Januar habe er zunächst keine große Sorge gehabt, dass das für Lippe "zu groß" sei und "nicht funktionieren wird", sagte Niewald, zumal ihm dazu damals keine weiteren schriftlichen Informationen vorgelegen hätten. "Im Nachhinein glaube ich, dass Lippe schon Kollegen und Kolleginnen hatte, die die Kompetenz hatten, aber offenbar nicht an den Stellen eingesetzt wurden, wo sie gebraucht wurden."

Hintergrund: Die Polizei in Lippe soll Hinweisen auf den Hauptverdächtigen Andreas V. nicht nachgegangen sein, unter anderem bereits in den Jahren 2016/2017. Doch ausgerechnet die damalige Beamtin wurde im Dezember 2018 zunächst zur Leiterin der Ermittlungskommission gemacht. Zudem hatte die Kripo Lippe Täter Andreas V. erst am 6. Dezember 2018 verhaftet und seine Behausung durchsucht, obwohl dessen Pflegekind bereits drei Wochen zuvor vom Jugendamt abgeholt worden war. Als dann auch das besagte Beweismaterial in der Kreispolizeibehörde Lippe verschwand, reichte es Innenminister Reul. Er entließ den damaligen Kripo-Chef Wolfgang Pader, versetzte Stienkemeier und setzte Wünsch als Sonderermittler ein. Reul sprach damals "klar von Polizeiversagen".

Wolfgang Niewald sagte in seiner Befragung im Ausschuss, dass Lügde all das, was er in seinen 41 Jahren bei der Polizei erlebt habe "definitiv" getoppt habe. "Ich räume für mich ein, dass ich mir nicht vorstellen konnte, welchen Umfang sexueller Missbrauch in unserer Gesellschaft hat."

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