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Ein Stück Oerlinghauser Geschichte wird abgerissen

Horst Biere

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Abriss: Sorgfältig trennt die Abbruchfirma die Baumaterialien. Mitte Januar soll das Gebäude völlig verschwunden sein. - © Horst Biere
Abriss: Sorgfältig trennt die Abbruchfirma die Baumaterialien. Mitte Januar soll das Gebäude völlig verschwunden sein. (© Horst Biere)

Oerlinghausen. Ein Wahrzeichen der Bergstadt verschwindet: Die Jugendherberge, das wohl meistumkämpfte Haus der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs, das seinerzeit schwer beschädigt wurde, wird durch Abrissbagger dem Erdboden gleichgemacht. Ferienwohnungen will ein Investor aus Asemissen an dieser Stelle in einem neuen, großen Gebäude mit Tiefgarage unterbringen.

„Es ist ein Freudentag für die Stadt Oerlinghausen", beschreiben Chroniken die Eröffnung der Jugendherberge am 9. Juni 1929. Denn Wandern stellte in den 1920er-Jahren eine wahre Volksbewegung dar. „Wandervogel" oder „Zupfgeigenhansel" nannte man liebevoll die zumeist jugendlichen Naturliebhaber, die mit Gitarre und Gesang durchs Land pilgerten. Der Teutoburger Wald und vor allem sein Kammweg zog die Wanderer aus ganz Deutschland magisch an.

Das Jugendherbergswerk suchte im Bereich Oerlinghausen schon lange bezahlbare, einfache Übernachtungsmöglichkeiten. Ein erster Behelfsschlafsaal entstand im Dachgeschoss der Volksschule – im heutigen Rathaus: Übernachtungen auf Strohsäcken, säuberlich getrennt nach Mädchen und Jungen, aber unter problematischen hygienischen Bedingungen, weil jährlich bis zu 2.000 Gäste hier schliefen.

Traumlage: Die Jugendherberge – hier ein Postkartenbild kurz nach der Eröffnung im Jahr 1929 – hat Oerlinghausen in ganz Deutschland bekannt gemacht.  - © Horst Biere/Quelle: Werner Höltke
Traumlage: Die Jugendherberge – hier ein Postkartenbild kurz nach der Eröffnung im Jahr 1929 – hat Oerlinghausen in ganz Deutschland bekannt gemacht.  (© Horst Biere/Quelle: Werner Höltke)

Ortshistoriker Werner Höltke hat recherchiert, was zur Errichtung des großen Neubaus führte. Ein lokaler Unterstützerverein unter dem Vorsitz von Lehrer Wilhelm Holzkamp forderte schon lange den Neubau einer Jugendherberge. 1928 gab es endlich grünes Licht. Die Finanzierung klappte. Bürgermeister August Reuter hatte sich für ein städtisches Grundstück auf dem Tönsberg eingesetzt, und das Jugendherbergswerk im „Gau Oberweser" übernahm als Träger das künftige Haus. Mit großem Brimborium wurde im Juni 1929 das moderne Gebäude eröffnet.

Landespräsident Heinrich Drake, Bürgermeister August Reuter sowie die Vertreter der deutschen Jugendherbergen sprachen feierliche Worte.

Und das Haus entwickelte sich prächtig. Daran änderte auch 1933 die Übernahme durch die „Reichsjugendführung" der Nazis nichts. Im Gegenteil, sie brachte noch mehr Leben in das Gästehaus. Denn nun mussten es auch Schulklassen zur politischen Bildung nutzen. Und die örtliche Hitlerjugend (HJ) versammelte sich hier ebenfalls. Werner Höltke: „Ich erinnere mich noch an die damals üblichen Geländespiele oder das Erlernen von Kampfliedern der Nazizeit."

Dramatische Tage erlebte die Jugendherberge an den Ostertagen 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Alliierten rückten von Süden in Richtung Oerlinghausen vor. Die Stadt wurde durch einen fanatischen Offizier zur Festung erklärt und sollte mit etwa 70 unerfahrenen, jungen Soldaten gegen die Übermacht der US-Armee verteidigt werden. Letztlich starben fast alle jungen deutschen Soldaten bei der Verteidigung der Bergstadt. Sie wurde von den Alliierten übernommen, die danach in endlosen Militärtrecks weiter Richtung Osten zogen.

Besonders schlimm war die Situation im Untergeschoss der Jugendherberge: In Todesangst wählten mehrere verzweifelte Bewohner den Freitod – unter ihnen auch der Herbergsvater, den alle nur „Onkel Hugo" nannten.

Doch der Wiederaufbau begann bald. Die Jugendherberge wurde in den folgenden Jahrzehnten immer mehr zum beliebten Ziel von Wanderern und Schulklassen. Mehrere An- und Umbauten schufen immer neue Übernachtungsmöglichkeiten mit bis zu 120 Betten in fast 20 Schlafräumen. Nach 2000 gingen die Belegungszahlen immer mehr zurück. Schließlich teilte der Vorstand im Oktober 2012 mit: „Zum Saisonende wird die Jugendherberge geschlossen."

Die Stadt übernahm für einen symbolischen Preis die Immobilie. Mehrere Nutzungsalternativen – unter anderem als Flüchtlingsunterkunft – wurden verworfen. Am Ende blieb nur der Abriss.

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