Oerlinghausen. Kein Haus Oerlinghausens hat wohl so viel erlebt, wie der „lange Gottfried". Das große Gebäude mit diesem Spitznamen, das an der Hauptstraße 53 vis-a-vis zur Alexanderkirche liegt, gilt als eines der ersten Häuser, das an der Passstraße durch den Teutoburger Wald errichtet wurde. Nicht in dieser Größe und Schönheit wie heute, sondern wohl als kleinere Behausung aus Fachwerk und Bruchstein, wie es zu der Zeit üblich war.
Im Jahre 1618, als der Dreißigjährige Krieg begann, ließ Johann Barkhausen das Bauwerk genau gegenüber der Kirche errichten. Das beschreibt die Dorfchronik. Barkhausen stand offenbar am Anfang einer politischen Karriere, denn just in diesem Jahr war er vom lippischen Grafen Simon VII zum Vogt, also zum Bürgermeister, ernannt worden. Und eine stattliche Einnahmequelle erhielt er obendrein zugestanden – er bekam die Erlaubnis, einen Krug zu eröffnen und zudem einen Handel mit Leinen und Garn, also mit Textilien, zu betreiben.
Das Oerlinghauser Bier wurde auch in der Region verkauft
Die Geschäfte liefen gut, denn die Lage an der Passstraße bescherte der Schankwirtschaft zahllose durchreisende Gäste. Nach dem Tod Johann Barkhausens 1636 übernahm sein Sohn Simon den Krug. Er verschaffte sich eine zusätzliche Einnahmequelle durch eine Schnapsbrennerei und das Brauen von Bier. Das Oerlinghauser Bier durfte er mit behördlicher Genehmigung sogar außerhalb von Lippe verkaufen. Trotzdem hat er offenbar nicht gut gewirtschaftet, denn er starb hoch verschuldet im Jahre 1681. Simon Barkhausens Tochter und ihrem Mann gelang es trotzdem, die Gaststätte zu halten. Sie nannten sie zu Ehren ihres Großvaters „Zum alten Vogt".
Ein halbes Jahrhundert später stand wieder ein Eigentümerwechsel an: Heinrich Ernst Wistinghausen übernahm das Haus 1745 und setzte an der Ostseite, zur Tönsbergstraße hin, einen Anbau im Fachwerkstil an das Gebäude. Eine Bäckerei richtete sein nächster Besitzer Lübbertsmeier hier ein. Damals kam auch durch die schlanke Form des Gebäudes erstmals der Name „langer Gottfried" auf. Aber am Ende stand wieder eine Versteigerung von Krug und Bäckerei: 1859 erwarben der jüdische Zigarrenfabrikant Moses Paradies und sein Bruder, der Kaufmann Heinemann Paradies, den „Gottfried".
Jüdisches Tauchbad im Keller
Nun begann die jüdische Zeit des Hauses. Die Gebrüder Paradies betrieben ein florierendes Geschäft mit selbsthergestellten Zigarren und verzichteten auf das Schankrecht. Ihr wirtschaftlicher Erfolg gründete wohl auch auf der Beschäftigung vieler Oerlinghauser Kinder in der Tabakverarbeitung – was seinerzeit durchaus üblich war. In einem Raum des Hauses richtete die damalige Synagogengemeinde eine Elementarschule für jüdische Kinder ein. Dabei erweiterten die Geschäftsleute Paradies das Gebäude um einen Anbau zum Schneiderbrink hin, dort wo die Treppe auf den Tönsberg führt. Außerdem baute man im Keller eine sogenannte Mikwe ein. Das ist ein jüdisches Tauchbad zur rituellen Körperreinigung.
Aber auch Moses und Heinemann Paradies mussten gegen Ende des 19. Jahrhunderts Konkurs anmelden. Der Kaufmann Friedrich Wiskemann ersteigerte das große Geschäftshaus und eröffnete einen Getränkegroßhandel. Er belieferte die Oerlinghauser Gaststätten und Krüge mit Fassbier und anderen alkoholischen Getränken. Und dort, wo man zuvor im kühlen Keller in ein Wasserbecken eintauchen konnte, stapelten sich nun die Bierfässer.
Im 20. Jahrhundert gab es einen ständigen Wechsel von Inhabern und Geschäften im langen Gottfried. So besaß die Firma Huwendiek nach dem Ersten Weltkrieg in der oberen Etage eine Hemden- und Wäschemanufaktur mit Arbeitsplätzen für viele Näherinnen. Auch ein Salon des Friseurs Heil lag hier unmittelbar an der Hauptstraße. Kuriose Verkehrsszenen spielten sich hier oftmals an der engen Straßendurchfahrt ab. So musste schon mal ein selbstgebautes Segelflugzeug der Flugschüler hochkant am langen Gottfried vorbei zum Flugplatz transportiert werden.
In den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs hat das Haus stark gelitten. Rings um das Gebäude tobten die heftigsten Kämpfe. Ein amerikanischer Panzer wurde von fanatischen deutschen Soldaten an dieser Stelle abgeschossen und blockierte eine Zeit lang den Vormarsch der Alliierten.
Ein Automat für Kleinbildfilme an der Hauswand
Als in der Nachkriegszeit die Schäden im Gottfried behoben waren, eröffnete ein bekanntes Fotogeschäft seine Pforten: Foto-Schumacher verkaufte hier Kameras, Filme und Fotozubehör. Und wer sich Passbilder anfertigen ließ oder seine Hochzeit im Bild festhalten wollte, der nutzte ebenfalls das Atelier von Schuhmacher. An der Außenwand des Hauses prangte noch bis in die 1960er Jahre der einzige Automat für Roll- und Kleinbildfilme.
Als Schumacher sein Geschäft aufgab, nutzte die Möbelfirma Fritz Brüntrup, die eine Produktion an der Holter Straße besaß, die unteren Räumen für eine kleine Möbelausstellung. Sein heutiges, modernes Aussehen erhielt das Gebäude im Jahr 2012. Sein neuer Besitzer renovierte es vollständig, baute das verwinkelte Haus total um und schuf so Räume für acht neuzeitliche Mietwohnungen. Bei den Bauarbeiten allerdings stießen die Handwerker noch auf eine Bodenvertiefung im Keller, auf die Reste der Mikwe, in der die jüdischen Waschzeremonien abgehalten wurden.