Detmold. Im Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold Hanning aus Lage soll nun der unter dem Namen "der Buchhalter von Auschwitz" bekannt gewordene Oskar Gröning in den Zeugenstand gerufen werden. Das hat zumindest ein Vertreter der Nebenklage gefordert. Zahlreiche weitere Anwälte von Holocaust-Opfern schlossen sich am neunten Prozesstag vor dem Landgericht Detmold dem Antrag an.
Haben sich Hanning und Gröning gekannt? Hatten sie Kontakt? Haben sie sogar gemeinsam Dienst getan? Das sind nur einige der Fragen, auf die sich die Nebenklage Antworten erhofft. Denn der 94-jährige Angeklagte, dem die Staatsanwaltschaft Beihilfe zum Mord im KZ Auschwitz in mindestens 170.000 Fällen vorwirft, schweigt. Zwar kündigten seine Verteidiger eine Erklärung für den 29. April an, jedoch: "Herr Hanning wird sich nicht selbst äußern, ich werde die Erklärung verlesen. Und er wird auch keine Fragen beantworten", unterstrich Verteidiger Johannes Salmen.
Im Gegensatz zu diesem Verhalten steht das des fast gleichaltrigen Oskar Gröning, der wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen im vergangenen Sommer vom Landgericht Lüneburg zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Zwar wurde gegen das Urteil Revision eingelegt, so dass es nicht rechtskräftig ist und Gröning ein Zeugnisverweigerungsrecht hätte. Dennoch gehen die Nebenkläger-Vertreter davon aus, dass der Senior ebenso wie in seinem eigenen Prozess umfangreiche Angaben machen könnte.
Reise ins Ausland nicht notwendig
Ob dem Antrag stattgegeben wird, muss das Gericht unter Vorsitz von Anke Grudda nun noch entscheiden. Einen weiteren Antrag aus den Reihen der Nebenkläger vom achten Prozesstag lehnte das Gericht am Freitag ab: Grudda erklärte, das Gericht werde nicht zur Vernehmung von drei Nebenklägern, die nicht reisefähig sind, nach Atlanta/USA fliegen.
Das Gericht verstehe, dass es den Holocaust-Opfern wichtig sei, ihre Erlebnisse öffentlich zu schildern. Da aber nicht zu erwarten sei, dass sie Angaben über eine konkrete Tatbeteiligung des Angeklagten machen könnten und zudem aus den bisherigen Zeugenaussagen die Lebensumstände im Vernichtungslager schon hinreichend geschildert worden seien, sei eine Reise ins Ausland nicht notwendig, begründete die Richterin die Entscheidung.
Über die Strukturen der KZ-Wachverbände und der dritten Kompanie Totenkopfsturmbann, in der Hanning den größten Teil seiner Auschwitz-Zeit verbracht haben soll, berichtete der Historiker Dr. Stefan Hördler, Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. In den Archiven lagern Datensätze von mehreren tausend SS-Männern, die im KZ Auschwitz Dienst getan haben - 200 davon hat Hördler seinen Angaben zufolge für das Gutachten unter die Lupe genommen. Dabei hat er erstaunliche Parallelen zwischen der Vita des Angeklagten und anderer Mitglieder der dritten Kompanie festgestellt: "Die Männer gehörten zur gleichen Generation, hatten dieselbe Sozialisation, kamen aus derselben Einheit in dieselbe Kompanie, wurden zum Teil am selben Tag befördert - sie kannten sich, und das war kein Zufall, das war Systematik", erläuterte Hördler.
Viele dieser SS-Männer hatten sich, wie Hanning, für zwölf Jahre zum Dienst verpflichtet, waren dann in einer Feldeinheit untergebracht und - Hanning, nachdem er an der Front an Oberschenkel und Kopf verletzt worden war - zum Ersatzbataillon "Der Führer" nach Stralsund versetzt und von dort nach Auschwitz abgeordnet worden.
Foto von Hanning mit "verbotenen" Abzeichen
Hanning begann dort seinen Dienst im Januar 1942 - im September 1943 wurde er zum SS-Unterscharführer befördert. Ein Rang, der nach Einschätzung von Hördler durchaus einflussreich war: "Unterscharführer wurden häufig als Gruppenführer, manchmal sogar als Zugführer eingesetzt." Gehe man davon aus, dass eine Kompanie rund 120 bis 150 Mann umfasste und in drei bis vier Züge mit jeweils drei Gruppen eingeteilt gewesen sei, hätten diese Männer zehn Prozent der Gesamt-Kompanie ausgemacht: "Ihre Schlüsselfunktion und Befehlsgewalt waren nicht zu unterschätzen."
Dass die SS-Männer der dritten Kompanie, in der viele Reichsdeutsche Dienst taten, sich als besser gestellte, elitäre Gruppe sahen, zeigte sich auch an Fotos, die Hördler beispielhaft präsentierte: Obwohl sie alte Uniformen im Konzentrationslager nicht tragen durften, trugen sie Sig-Rune am Kragen und SS-Ärmelstreifen, um ihre Laufbahn zu dokumentieren und sich von anderen Wachmannschaften abzuheben. Ein Foto als SS-Unterscharführer mit "verbotenen" Abzeichen, die seine frühere Laufbahn dokumentieren, existiert auch von Reinhold Hanning.
Der Prozess wird am kommenden Freitag, 22. April, fortgesetzt. Erneut tritt ab 10 Uhr der Historiker Dr. Stefan Hördler in den Zeugenstand.