Bielefeld/Herford. Sie verteilen Korane und Mohammed-Biografien in Fußgängerzonen, werben in Vereinen und sozialen Netzwerken für ihre Ideologie und sind damit erfolgreicher als andere extremistische Strömungen in Deutschland. Der Salafismus wächst so dynamisch wie keine andere islamistische Bewegung.
Allein in NRW zählt der Verfassungsschutz 2.900 Salafisten, davon 150 in OWL. Um weitere Kinder und Jugendliche vor Radikalisierungen zu bewahren, baut die Landesregierung das Präventionsprogramm „Wegweiser" aus. Innenminister Ralf Jäger (SPD) hat gestern zwei neue Beratungsstellen in OWL eröffnet.
Die Erwartungen an das bundesweit einzigartige Programm sind hoch. Lange haben die Menschen in OWL auf Unterstützung gewartet. Denn insbesondere in Herford und Bielefeld ist bekannt, wie gefährlich es ist, wenn sich junge Menschen ohne Perspektive und Anschluss radikalisieren. Beispielhaft zeigen die Entwicklungen von Tarik S. oder Sebastian B., wie sich Salafisten Terrororganisationen anschließen, um dann im Namen ihrer Religion als IS-Kämpfer zu töten.
Um Radikalisierungen wie die von Tarik S. und Sebastian B. im Keim zu ersticken, setzt das NRW-Innenministerium neben Programmen für Aussteiger seit 2014 auf das Präventionsprogramm „Wegweiser", das sich an Betroffene und das soziale Umfeld richtet. „Bislang haben wir 13 Beratungsstellen in NRW eröffnet. Bis Ende des Jahres wird es landesweit 25 Anlaufstellen sowie weitere mobile Angebote geben", erklärt Jäger.
6.800 Beratungen haben die Mitarbeiter des Präventionsprogramms seit 2014 geführt, davon 500 direkt mit betroffenen Kindern und Jugendlichen auf dem Weg in die Radikalität. „Die Zahlen belegen den enormen Bedarf", sagt Jäger. Gleichzeitig ist die Zahl der Salafisten in NRW seit 2014 stark gestiegen.
50 Prozent der Betroffenen, die bei Wegweiser Hilfe suchen, sind zwischen 14 und 16 Jahre alt. „Die Klientel wird immer jünger. Die Salafisten geben Kindern und Jugendlichen mit Versagenserlebnissen einfache Antworten auf komplexe Fragen und vermitteln ihnen Zugehörigkeit", erklärt Jäger. „Um Terroranschläge von Morgen zu verhindern, müssen wir die Terroristen von Morgen an einer Radikalisierung hindern."
Auffällig ist nach Angaben von Innenminister Jäger, dass sich besonders Frauen an die Beratungsstellen wenden, wenn sie bei ihren Söhnen, Brüdern oder Schülern Auffälligkeiten wahrnehmen. „Wenn junge Männer und Frauen plötzlich ihr Verhalten ändern, sich beispielsweise anders kleiden, auf Alkohol verzichten oder Lehrerinnen den Handschlag verweigern, dann suchen vor allem Frauen Hilfe in den Beratungsstellen", erklärt Jäger.
Bielefelds Oberbürgermeister Pit Clausen (SPD) erhofft sich von dem Präventionsprogramm in seiner Stadt Antworten auf viele offene Fragen: „In der Stadt herrscht große Verunsicherung, deshalb ist Aufklärung ebenso wichtig wie Sanktionen." Davon sind auch Herfords Bürgermeister Tim Kähler (SPD) sowie der Landrat des Kreises Herford, Jürgen Müller (SPD), überzeugt.
„Die Beratungsstellen werden uns dabei helfen, dass die Gesellschaft als Frühwarnsystem agiert und Radikalisierungen erkennt", sagt Kähler. „Schnelle und unbürokratische Hilfsangebote können Radikalisierungen verhindern und nehmen Betroffenen die Angst, sich an die Berater zu wenden", ergänzt Müller.
Um ein interkommunales Präventionsnetzwerk in OWL aufzubauen, hat die Trägergemeinschaft der „Wegweiser"-Beratungsstellen in Herford und Bielefeld, bestehend aus dem AWO-Kreisverband Bielefeld und dem AWO-Bezirksverband OWL, zwei Frauen und einen Mann eingestellt, die Beratungen auf deutsch, türkisch, arabisch, englisch und französisch anbieten. Die neuen Mitarbeiter sind seit April im Einsatz und nach Angaben von Iris Wolter und Kirsten Hopster von der AWO in den Disziplinen Psychologie, Soziologie und Islamwissenschaften beheimatet, allerdings nicht in der Extremismusprävention.
„Das Team bietet Betroffenen individuelle und passgenaue Hilfe", erklärt Hopster. „Darüber hinaus informieren die Mitarbeiter in Schulen und bei anderen Kooperationspartnern über Anzeichen von Radikalisierungen", ergänzt Wolter.
Um vertrauensvolle Beratungen anbieten zu können, macht die AWO keine genaueren Angaben zu den Beratern in den neuen Anlaufstellen. „Fest steht, dass es eine Hotline und eine offene Sprechstunde geben wird", kündigt Wolter an. Dabei gilt: Wer um Hilfe bittet, kann auf die Diskretion des Teams vertrauen. „Das gilt für Betroffene und das soziale Umfeld."