Bielefeld/Düsseldorf. Das Ziel politischer Bildung ist der mündige Bürger. Die Voraussetzung, um mitreden und mitgestalten zu können, ist das Verständnis für grundlegende politische Zusammenhänge. In der Schule ist jedoch laut einer Studie der Universität Bielefeld kaum Raum für politische Themen.
Die Untersuchung des Politikunterrichts in NRW hat gezeigt, dass Schüler der Sekundarstufe I pro Schulwoche lediglich 17 Minuten Zeit für politische Themen haben. Experten schlagen Alarm: Sie warnen vor uninformierten Erstwählern und Jugendlichen, die in den Extremismus abdriften.
Die Ergebnisse der Studie sind ernüchternd: Schüler der Sekundarstufe I können nur ein Prozent ihrer Lernzeit mit politischen Themen verbringen. Für die Studie hat das Team um Reinhold Hedtke Stundentafeln und Kernlehrpläne von Gymnasien, Realschulen und Gesamtschulen ausgewertet. In Stundentafeln wird festgehalten, wie viele Unterrichtsstunden auf welches Fach entfallen. Kernlehrpläne beschreiben, welche Kompetenzen auf welchem Niveau Schüler am Ende des Schuljahres erreicht haben sollen.
„Der Fächername Politik lässt erwarten, dass politische Themen in diesen Unterrichtsstunden einen erheblichen Teil, mindestens aber die Hälfte der Zeit einnehmen sollten", sagt Hedtke. „Unsere Untersuchungen zeigen, dass politische Themen nur ein Drittel im sozialwissenschaftlichen Lernbereich ausmachen." Der Anteil wirtschaftlicher Themen sei höher.
Sichtbar wird laut Hedtke auch die mangelnde Anerkennung des Politikunterrichts, weil häufig fachfremde Lehrkräfte unterrichten. An Realschulen wird Politik zu 62 Prozent, an Gesamtschulen zu 64 Prozent und an Gymnasien zu 27 Prozent von Lehrkräften unterrichtet, die nicht dafür ausgebildet wurden.
Auch die Bielefelder Realschullehrerin und stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NRW, Maike Finnern, hat als Deutsch- und Mathematik-Lehrerin Politik unterrichtet. „Oft entscheiden sich Schulen aus pragmatischen Gründen dafür, weil zum Beispiel der Klassenlehrer so mehr Stunden in seiner Klasse verbringen kann." Mit Blick auf die extremen politischen Veränderungen sei es aber umso wichtiger, dass Fachlehrer unterrichten, sagt Finnern.
Überrascht haben die Studienergebnisse Finnern nicht. „Die Ergebnisse decken sich mit meinen Erfahrungen. Wirtschaft spielt häufig eine übergeordnete Rolle." Deshalb lehnt die GEW auch die geplante Einführung des Fachs Wirtschaft in NRW ab. „Die Bereiche Wirtschaft und Politik müssen in der Schule einen höheren Stellenwert bekommen, aber eine Testphase mit dem Fach Wirtschaft hat gezeigt, dass damit die Verdrängung von politischen Themen einhergeht." Das liegt laut Finnern vor allem am vollen Lehrplan. „Neue Fächer verdrängen bestehende Fächer aus dem Lehrplan."
Deshalb plädiert auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in NRW für eine Stärkung politischer und wirtschaftlicher Themen in bereits bestehenden Fächern. „Die solitäre Betrachtung von Fächern ist schwierig, weil nicht nur im Politikunterricht über Politik gesprochen wird", erklärt der Landesvorsitzende Stefan Behlau. „Schule hat die Aufgabe, Schüler zu mündigen Bürgern zu erziehen, deshalb können politische Themen gar nicht genug Platz einnehmen." Das sei aber nicht nur Aufgabe von Politiklehrern, sondern eine Querschnittsaufgabe.
»In der Schule müssen auch heikle Themen besprochen werden« Die Bielefelder Pädagogin Birgit Ebel, die sich in der Präventionsinitiative „Extrem dagegen" engagiert, plädiert seit langem für mehr Präventionsarbeit durch Demokratiepädagogik. „In der Schule müssen auch heikle Themen wie Extremismus, kriegerische Auseinandersetzungen, Migration, Menschenrechte oder die Geschlechterfrage thematisiert werden, weil das politische Themen sind, die Jugendliche beschäftigen."
Um Politikverdrossenheit und das Abdriften in politischen oder religiösen Extremismus zu verhindern, nehmen Lehrer eine entscheidende Rolle ein, sagt Ebel. „Die Zahl der Eltern, die ihren Kindern nicht helfen können oder wollen, steigt ebenso wie die Zahl der Eltern, die extreme Positionen an ihre Kinder weitergeben." Deshalb müssten Lehrer, die oft als einzige Erwachsene regelmäßig Kontakt zu Schülern haben, dagegen arbeiten.
Nur mit einem Demokratieverständnis können Jugendliche laut Ebel politische Urteilsfähigkeit und gesellschaftliche Partizipation entwickeln – insbesondere mit Blick auf die steigende Anzahl religiöser Fundamentalisten in der Schülerschaft. „Deshalb versuche ich, im Deutsch- und Geschichtsunterricht so oft wie möglich politische Themen umzusetzen und Schülern in Rollenspielen das Einnehmen neuer Positionen zu ermöglichen", erklärt Ebel.