Neuer Missbrauchskomplex in NRW: Tatverdächtige sollen auch aus OWL stammen

Wiebke Wellnitz

Ein Missbrauchsopfer sitzt beispielhaft in einem Raum mit mehreren Videokameras und Mikrofonen für eine Aufzeichnung seiner Aussage. - © Jan Woitas/dpa
Ein Missbrauchsopfer sitzt beispielhaft in einem Raum mit mehreren Videokameras und Mikrofonen für eine Aufzeichnung seiner Aussage. (© Jan Woitas/dpa)

Köln. "Ein solches Ausmaß an menschenverachtender Brutalität habe ich noch nicht erlebt", betont der Kölner Polizeipräsident Frank Schnabel: Mehr als 70 Tatverdächtige sollen zahlreiche Fotos und Videos von sexuell missbrauchten Babys und Kleinkindern besessen und getauscht haben. Ein Teil der Männer hat den Ermittlungen zufolge auch selbst Kinder vergewaltigt, wie es von der Kölner Polizei und Staatsanwaltschaft heißt. Wie nw.de aus gut unterrichteten Kreisen erfuhr, stammt eine einstellige Zahl der Tatverdächtigen aus OWL.

Ausgangspunkt der Ermittlungen war ein Verfahren in Berlin, bei dem ein 44-jähriger Mann aus Wermelskirchen im Bergischen Land ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten war. Nach Angaben der Ermittler befindet sich der Beschuldigte seit Dezember 2021 in Untersuchungshaft. Durch Chats sei die Polizei auf den Mann aufmerksam geworden, eine Telefonüberwachung habe schlussendlich eine Durchsuchung der Wohnung möglich gemacht.

Aufnahmen reichen bis ins Jahr 1993 zurück

"Wir wollten ihn am offenen Rechner überraschen und haben deshalb ein Spezialeinsatzkommando eingesetzt", führt Kriminalhauptkommissar Jürgen Haese weiter aus. Nur auf diese Weise hätte die komplette Datensicherung sichergestellt werden können. Die Bilder, Videos und Chatverläufe seien vor Ort heruntergeladen worden, das habe 18 Tage gedauert. Die Datenmenge umfasse mehr als 30 Terabyte. Ein Terabyte ergebe ausgedruckt auf Papier einen Stapel von rund 25 Kilometern Höhe, erklärten die Ermittler. Die Aufnahmen reichten bis ins Jahr 1993 zurück.

Durch die Datensichtung ist der 44-Jährige nun dringend tatverdächtig. Im Kern habe der Mann die Taten auch eingeräumt. Er soll nach Angaben der Ermittler zwischen 2005 und 2019 selbst insgesamt zwölf Kinder sexuell missbraucht haben. Zum Zeitpunkt der Tat war die Hälfte der Kinder nicht älter als drei Jahre. Das jüngste Opfer sei noch ein Säugling gewesen. Die zehn Jungen und zwei Mädchen gehörten teils zum engeren Umfeld des Mannes. Darüber hinaus arbeitete er als Babysitter im Kölner Umland und verübte die Taten während der Betreuungszeit. Manche Taten filmte der Wermelskirchener. Es werde derzeit geprüft, ob noch weitere Kinder Opfer des Manns geworden sein könnten.

Tatverdächtige stammen auch aus OWL

Durch die Sichtung des Datenmaterials sind nach Polizeiangaben jedoch nicht nur die Taten des 44-Jährigen belegbar, sondern auch mehr als 70 weitere Tatverdächtige ermittelt worden. 26 von ihnen leben in NRW. Wie die Redaktion aus Ermittlerkreisen erfuhr, sollen einige Tatverdächtige aus dem Raum OWL stammen, die hiesigen Staatsanwaltschaften ermitteln. Konkrete Angaben zu den hiesigen Verdächtigen blieben vorerst aus.

Die Ermittler gehen davon aus, dass die Dimensionen des Kindesmissbrauchs die des Missbrauchskomplexes von Bergisch Gladbach sprengen. Zuletzt wurden die Hauptbeschuldigten im Komplex Münster zu langen Haftstrafen verurteilt. Zuvor löste bereits der jahrelang unentdeckt gebliebene Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde bundesweit Entsetzen aus.

49 Opfer pro Tag

Die aktuelle Sonderauswertung der polizeilichen Kriminalstatistik macht dies in Zahlen deutlich: Im vergangenen Jahr sind nach Erkenntnis der Ermittlungsbehörden mehr als 17.700 Kinder und Jugendliche in Deutschland Opfer sexualisierter Gewalt geworden. Das seien im Durchschnitt 49 minderjährige Opfer pro Tag, sagte der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch. Demnach wurden 17.704 unter 14-Jährige im vergangenen Jahr Opfer von Missbrauch. 2281 von ihnen waren jünger als sechs Jahre.

Seit einigen Jahren gelingt es der Polizei mit Hilfe des US-amerikanischen National Center of Missing and Exploited Children (NCMEC) mehr Licht in das vermutlich große Dunkelfeld von Kindesmissbrauch zu bringen. Das NCMEC übermittelt bei entdeckten Delikten mit Tatort in Deutschland Daten an das Bundeskriminalamt (BKA). Münch zufolge gab es allein 2021 mehr als 62.000 Hinweise auf strafrechtliche relevante Fälle von sexualisierter Gewalt oder Missbrauchsdarstellungen.

mit Material von dpa, AFP und epd

Information

Hilfsangebote sind jederzeit erreichbar

Betroffene oder Menschen, die einen Missbrauch vermuten, können sich kostenfrei und anonym an das "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" wenden: 0800-22 55 530. Weitere Infos zu Beratungs-und Hilfeangeboten vor Ort gibt es unter: www.hilfe-portal-missbrauch.de

Kinder und Jugendliche, die Missbrauch erlebt haben, können sich montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr an die "Nummer gegen Kummer" (116 111) wenden. Auf www.nummergegenkummer.de gibt es auch die Möglichkeit, mit den Beratern zu chatten.

Wer sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt oder pädophile Neigungen bei sich vermutet, findet Ansprechpartner beim Projekt "Kein Täter werden" und unter 030-450 529 450 gibt es kostenlose Informationen. Es gilt die ärztliche Schweigepflicht.

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