Alkohol in der Schwangerschaft: Diese Frau aus Porta Westfalica kämpft mit den Folgen

Porta Westfalica. Es dauerte Jahrzehnte, bis Ines Lübbert endlich Klarheit hatte: Im September diagnostizierten Ärzte bei der 62-Jährigen eine Form von FASD. Das steht für Fetal Alcohol Spectrum Disorders , zu deutsch: Fetale Alkoholspektrum-Störungen. Es ist der Oberbegriff für Schädigungen, die bei Ungeborenen durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft entstehen können - und die sie auch als Erwachsene begleiten. &bdquo;Ich habe ein Leben lang gemerkt, dass ich anders bin, vor allem im Zwischenmenschlichen“, sagt Lübbert. &bdquo;Es gab immer Momente, in denen ich verzweifelt war.“

Nun sucht sie andere Erwachsene mit FASD, um sich auszutauschen. Dabei hilft ihr die FASD-Selbsthilfegruppe in Porta Westfalica. Sie möchte Kontaktmöglichkeiten für Menschen wie Ines Lübbert schaffen, auch beim Weg zur Diagnose helfen - denn der ist für Erwachsene nicht leicht, wie Lübberts Fall zeigt.

FASD-Babys sind bei der Geburt oft kleiner Jährlich werden mehr als 10.000 Kinder mit Schädigungen geboren, die durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft entstanden sind, heißt es seitens des Bundesbeauftragten für Sucht- und Drogenfragen. FASD-Babys sind oft kleiner und leichter, wenn sie zur Welt kommen. Äußere Merkmalen können laut Internetseite des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte unter anderem eine schmale Oberlippe und eine flache Mittelrinne zwischen Nase und Mund sein - manches davon kann mit der Zeit auswachsen. Und dann gibt es die unsichtbaren Folgen: Der Alkoholkonsum kann zu Fehlentwicklungen im Gehirn führen, das zentrale Nervensystem schädigen. Daraus resultieren unter anderem eine schlechtere Verarbeitung von Informationen oder Aufmerksamkeitsprobleme.

Was Ines Lübbert über ihre Kindheit berichtet, passt dazu. Als sie geboren wurde, sei sie dem Tod näher gewesen als dem Leben, sagt sie. &bdquo;Ich war ein Frühchen, habe nur ein Kilogramm gewogen und hatte einen angeborenen Herzfehler.“ Aufgewachsen ist sie in Freiburg. Die Grundschulzeit bezeichnet sie als Drama, sie habe sie als sehr anstrengend empfunden. Mit dem Lernen habe sie sich schwergetan. Auch in der Realschule habe sie nicht wie andere funktioniert.

In ihrem Elternhaus findet sie keinen Halt. &bdquo;Meine Kindheit fiel dem Alkoholismus zum Opfer“, sagt sie. Allerdings nahm der Konsum bei ihrer Mutter wohl erst im Laufe der Zeit zu. Dass sie auch während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, fand Lübbert heraus, als sie sich im Rahmen ihres Diagnoseverfahrens auf Spurensuche begab. Ihr älterer Bruder hat es ihr erzählt, die Eltern sind bereits vor einigen Jahren gestorben. Er hat kein FASD. Ihre Mut ter sei 42 Jahre alt gewesen und habe gedacht, sie stecke in den Wechseljahren, versucht Lübbert eine Erklärung. Mit einer Schwangerschaft hatte sie nicht gerechnet.

Ob ein Kind erkrankt, hängt von verschiedenen Faktoren ab Birte Schilling leitet die FASD-Selbsthilfegruppe in Porta Westfalica , in der sich vor allem Pflege- und Adoptiveltern austauschen. Sie hat Lübbert zum MT-Gespräch begleitet. Schilling betont, dass nicht hinter jedem Kind mit Fetaler Alkoholspektrum-Störung eine Alkoholikerin stecke. Manchmal reiche tatsächlich ein Schluck, um irreparable Schäden beim Ungeborenen anzurichten, berichtet die 41-Jährige. Ob ein Ungeborenes erkranke oder nicht, hänge einerseits von der Menge und Regelmäßigkeit des Konsums ab, aber auch von anderen Faktoren wie dem Zeitpunkt der Schwangerschaft, teilt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte auf seiner Homepage weiter mit.

Nachdem Ines Lübberts Eltern sich haben scheiden lassen, lebt sie zunächst beim Vater. Mit 16 Jahren zieht sie zu ihrem Onkel und ihrer Tante nach Nettelstedt, die sich liebevoll um sie kümmern. Sie macht eine Ausbildung zur Bürokauffrau, später ihren staatlichen Betriebswirt, engagiert sich bis heute ehrenamtlich. Aber sie merkt, dass sie aneckt. &bdquo;Ich will nicht so sein. Aber ich hatte keine Erklärung dafür“, sagt sie.

Unausgesprochene Regeln nimmt Lübbert nicht wahr Als Folge der alkoholbedingten Gehirnschädigung kann das Sozialverhalten beeinträchtigt sein. &bdquo;Oftmals können sie Regeln, die sie in einer bestimmten Situation gelernt haben, nicht auf eine andere, ähnliche Situation übertragen“, heißt es vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte über Erkrankte. Aggressives oder zu freundliches Verhalten, Probleme bei der Pflege von Beziehungen werden als weitere mögliche Ausprägungen genannt. Erwachsene mit FASD litten – auch aufgrund der Schwierigkeiten und negativen Lebenserfahrungen - häufiger unter Depressionen, neigten zu Drogen- und Alkoholabhängigkeit und seien stärker selbstmordgefährdet. Auch bei Ines Lübbert wurde eine Depression festgestellt, seit 2019 bezieht sie deswegen Erwerbsminderungsrente.

Unausgesprochene Regeln, die es zwischen Menschen gibt, &bdquo;die sind an mir vorübergegangen“, beschreibt sie ihr Problem. Diskussionen kann sie nur schwer beenden, bohrt immer weiter nach, auch wenn andere es schon gut sein lassen wollen. Sie versteht nicht, dass das als taktlos empfunden wird. &bdquo;Das hat mich Freundschaften und Beziehungen gekostet.“ Auch hat sie Schwierigkeiten mit Nähe und Distanz. Ende der 1980er-Jahre war sie drei Jahre verheiratet, die Ehe scheiterte. Bis heute habe sie nie wieder in einer Beziehung gelebt, das klassische Modell sei nichts für sie.

Betroffene landen oft in der ADHS-Ecke Eine Erklärung für ihr Verhalten sucht Lübbert lange. Oft sei sie in die ADHS-Ecke gesteckt worden. &bdquo;Ich habe versucht, in Therapien an mir zu arbeiten. Aber das klappte einfach nicht“, sagt die 62-Jährige, die mittlerweile in der Gemeinde Hille lebt. Es handele sich ja um einen irreparablen Hirnschaden, dieser könne nicht geheilt werden, betont Birte Schilling.

Die Diagnostik bei Erwachsenen stecke noch in den Kinderschuhen, erklärt Schilling, die wegen ihres Pflegesohns zu dem Thema gekommen ist. Vor vier Jahren hat sie die Selbsthilfegruppe gegründet, macht mittlerweile eine Ausbildung zur FASD-Fachkraft und hält Vorträge. Die Dunkelziffer unter Erwachsenen müsste hoch sein, schätzt sie. Denn: &bdquo;Viele wissen nichts davon.“ Den Problemen nachzugehen, dürfte dem Großteil schwerfallen, denn nur wenige seien so selbstständig wie Ines Lübbert. &bdquo;80 Prozent der Menschen mit FASD sind nicht alleine lebensfähig. Ines ist eine Ausnahme mit dem, was sie geschafft hat.“

Eine Tatort-Folge bringt sie der Diagnose näher Lübbert kommt der Ursache für ihr Verhalten schließlich durch eine Tatort-Folge auf die Schliche, in der es eine Erkrankte gibt. &bdquo;Es gab viele Schnittmengen“, sagt sie. Außerdem habe sie etwa zu dieser Zeit unabhängig voneinander von verschiedenen Seiten den Tipp bekommen, dass sie eine solche Störung haben könnte. Sie kontaktiert das LVR-Klinikum Essen, das eine Sprechstunde für Erwachsene mit FASD anbietet. Nach einem Jahr Wartezeit macht sie dort umfangreich Tests, muss einen Lebenslauf einreichen, eine andere Person muss sie schriftlich beurteilen. Am Ende steht die Diagnose: Fetale Alkoholspektrum-Störungen.

Mit dem Ergebnis nehme man Erkrankten eine Last, meint Birte Schilling. &bdquo;Es gibt endlich eine Erklärung, keiner ist schuld daran.“ Auch Ines Lübbert ging es so: &bdquo;Ich war erstmal erleichtert.“ Viele Freunde hätten sich für sie gefreut. &bdquo;Sie verstehen mich jetzt besser.“

Das erste Treffen findet am 17. Januar statt Gerne möchte sich Ines Lübbert mit anderen FASD-Erwachsenen austauschen, gemeinsam etwas unternehmen. Ihre Treffen sollen parallel zu denen der Selbsthilfegruppe Porta Westfalica stattfinden – damit Birte Schilling unterstützen kann. &bdquo;Es sollen auch Leute angesprochen werden, die den Verdacht haben.“ Schon oft habe die Gruppe Menschen auf dem Weg zur Diagnose begleitet. Das erste Treffen ist am Freitag, 17. Januar 2025, um 19 Uhr im Gemeindehaus Hausberge, Kirchsiek 7. Interessierte werden gebeten, sich vorher bei Schilling per E-Mail an birte@ fasd-portawestfalica.de oder per Telefon unter ( 0152)58519782 anzumelden. Weitere Informationen auf www.fasd-portawestfalica.de

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