„System bedingt das Problem“: Ärztevertreter erklärt übertriebene Befunde in Akten

Bielefeld. Das Phänomen falscher oder übertriebener Diagnosen in Patientenakten geht offenbar in Teilen auf den Dokumentationszwang für Ärzte zurück. Das hat ein Vertreter des Hausärzteverbands Westfalen-Lippe eingeräumt.

Die elektronische Patientenakte ePA ermöglicht es gesetzlich Versicherten erstmals, Einblick in ihre ärztlichen Unterlagen zu nehmen. Dabei gibt es Fälle, wo Patienten die dort vermerkten Befunde nicht nachvollziehen können. Die falschen Einträge können zu Problemen mit Versicherungen, bei Bewerbungen für einige Berufe und beim Wechsel in die Private Krankenversicherung führen.

Jens Grothues aus Beverungen, Vorstandsmitglied des Hausärzteverbands Westfalen-Lippe, hat &bdquo;damit gerechnet“, dass es durch die ePA vermehrt zu Nachfragen kommt. Er enthüllt gegenüber dieser Redaktion, weshalb Ärzte manchmal in den Akten etwas anderes eintragen, als mit dem Patienten besprochen wurde.

Durch die elektronische Patientenakte (ePA) können Patientinnen und Patienten neuerdings Einblick in ihre Abrechnungsdaten nehmen. Einige stellen fest, dass falsche oder übertriebene Diagnosen vermerkt sind. Wie beurteilen Sie das als Arzt? Kann das tatsächlich sein?

Jens Grothues: Wenn ich ehrlich sein soll: Ja, damit musste man rechnen. In der ePA treffen mehrere Spannungsfelder aufeinander – Dokumentationspflicht, Abrechnungslogik, Prüfmechanismen der Krankenkassen und berechtigte Informationsansprüche der Versicherten. Ich rate Patientinnen und Patienten deshalb klar: Es sind eure Akten, kümmert euch aktiv darum.

Wie kommt es, dass übertriebene oder falsche Diagnosen in der Akte erscheinen?

Wir haben drei Akteure mit unterschiedlichen Rollen: Ärztinnen und Ärzte dokumentieren Leistung und Befund und müssen hierfür Diagnosen und Daten hinterlegen; Krankenkassen prüfen Wirtschaftlichkeit und Plausibilität; Patientinnen und Patienten erwarten eine lückenlose, korrekte und nachvollziehbare Dokumentation.

Diagnosen erscheinen häufig zeitversetzt in der ePA – oft erst Monate nach Quartalsabschluss. Gleichzeitig gilt: Für jede Leistung braucht es eine medizinische Begründung. Fehlt die, drohen Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regresse. Das führt dazu, dass Diagnosen in der Akte landen – auch Verdachtsdiagnosen – damit die Versorgung transparent und abrechnungsfähig ist. Für Versicherte ist im Schadensfall zudem relevant, dass wesentliche Vorerkrankungen korrekt dokumentiert sind, damit es nicht zu Leistungsablehnungen kommt und Ansprüche gegenüber Dritten, auch Ärztinnen und Ärzte, erfolgreich sein können.

Diagnose-Zuordnung wird in ePA sichtbar Haben Sie ein Beispiel?

Wenn ich einen Abdominalultraschall durchführe, braucht es eine Indikation – zum Beispiel Oberbauchschmerzen. Ohne Indikation wäre es eine medizinisch nicht begründete Untersuchung, die weder fachlich sinnvoll noch vergütungsfähig ist. Das System verlangt also eine Diagnose-Zuordnung, die in der ePA sichtbar wird.

Wie ist das bei Medikamenten?

Ähnlich. Teure und/oder besondere Arzneimittel erfordern eine belastbare medizinische Begründung. Wenn ich ein wichtiges Herzmedikament verordne, dokumentiere ich dazu die passende Diagnose. Hinter jeder Verordnung stehen neben der Diagnose auch Abrechnungsbezüge. Fehlen diese, fordert die Kasse im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung Geld zurück. In dieser Konstellation zieht die Ärzteseite oft den Kürzeren, wenn die Dokumentation nicht deckungsgleich mit der Prüflogik ist.

Wie kommt es zu übertriebenen Diagnosen?

Besonders sensibel sind F-Diagnosen (psychiatrische/psychosomatische Diagnosen). Nehmen wir eine leichte depressive Symptomatik: Anfangs ist eine Anpassungsstörung oder eine akute Belastungsreaktion plausibel, diese Diagnosen sind zeitlich begrenzt und verschwinden aus der Patientengeschichte.

Ärztlich kann man auch einen Verdacht auf eine Erkrankung dokumentieren – das taucht dann so in der ePA auf. Wir sind sehr vorsichtig mit chronischen F-Diagnosen, weil sie soziale, versicherungsrechtliche und stigmatisierende Folgen haben können. Gleichwohl müssen wir gegenüber der Kasse begründen, warum wir untersuchen und behandeln.

Übertriebene Diagnosen: &bdquo;Das System bedingt das Problem“ Welche Rolle spielen Risikostrukturausgleich (RSA) und Anreizsystem? Also kann es sein, dass Diagnosen bewusst verfälscht werden?

Das ist sicherlich ein Problem der Vergangenheit, es gab früher Krankenkassenmitarbeiter, die durch die Praxen gezogen sind und aufgefordert haben, kompliziertere Diagnosen zu verschlüsseln. Hintergrund: Komplexe Diagnosen führen bei den Krankenkassen zu einer höheren Zuweisung mit &bdquo;Geld“. Dieses Vorgehen ist Geschichte und kommt nicht mehr vor.

Würden Sie das bewusste Manipulieren seitens der Ärzteschaft zurückweisen?

Eine bewusste Manipulation durch Kolleginnen und Kollegen ist sicherlich eine absolute Ausnahme und keinesfalls die Regel, das System bedingt das Problem.

Ist es ein Problem, dass Patientinnen und Patienten nun Einsicht nehmen können?

Nein, im Gegenteil. Das ist sinnvoll. Der Patient kann seine gesundheitliche Historie überblicken, Plausibilitäten prüfen und Fehler adressieren. Früher beruhte vieles auf Selbstauskunft oder separaten Anfragen – gerade private Krankenversicherungen haben lange keine ärztlichen Berichte mehr angefordert und auf die Selbstauskunft des Patienten gesetzt. Transparenz über die ePA stärkt die Patientensouveränität.

Was raten Sie Patientinnen und Patienten jetzt?

Nutzt eure Rechte: Beantragt den Zugang, durchlauft das Identverfahren, schaut regelmäßig in eure ePA. Aktuell nutzen weniger als 10 Prozent den Zugang – der Datenschutzprozess ist umständlich, aber machbar. Es sind eure Daten. Lernt sie kennen, prüft sie, lasst Unstimmigkeiten klären.

Ärztevertreter: Kassen sollen Kontrollmechanismus reduzieren Welche Handlungsmöglichkeiten hat der Patient konkret?

Stehen falsche Angaben in der Akte, könnt ihr Korrekturen oder Löschungen beantragen; das Initiativrecht liegt bei euch. Ein neues Gesetz, das im Bundestag beraten wird, soll diese Prozesse vereinfachen – insbesondere das Widerspruchs- und Korrekturmanagement in der ePA. Das ist eine sinnvolle Reaktion der Politik.

Die ePA ist eine Patientenakte, der Mensch nicht die Ärztin, der Arzt ist Herr seiner Daten und kann sie löschen, verbergen und korrigieren, Ärztinnen und Ärzte können nicht eigenmächtig nachträglich umdokumentieren, aber sie können – auf Antrag und mit eurer Einwilligung – fachlich begründete Richtigstellungen unterstützen.

Und die Ärzte und Kassen?

An die Kolleginnen und Kollegen: Seid zurückhaltend mit chronifizierenden F-Diagnosen, dokumentiert sauber Indikation, Verlauf und Re-Evaluation. An die Kassen: Reduziert den überzogenen Kontrollmechanismus. Wenn jede Tätigkeit bis ins Kleinste begründet und anschließend kleinteilig geprüft wird, produziert das Dokumentationsballast, Fehlklassifikationen und Frust. Vertrauen in die ärztliche Versorgung ist kein Luxus, sondern Voraussetzung für Effizienz und Qualität.

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