Die Aiwanger-Affäre und die Medien: Medienwissenschaftler im Interview

Herr Haller, in der Berichterstattung über den Flugblattskandal um Hubert Aiwanger mussten die deutschen Medien Kritik einstecken. Als erstes berichtete die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) über den Vorfall. Hat die SZ aus Ihrer Sicht Fehler begangen?

Michael Haller: Aus meiner Sicht hat die SZ anfangs einen Grundsatz missachtet, der heute, im Zeitalter des Internetjournalismus, ein Merkmal journalistischer Qualität bedeutet. Und dieser Grundsatz lautet: Mache nicht nur die Sache, sondern auch die Gründe und Umstände deines Vorgehens transparent. Das hat die SZ erst getan, nachdem sich viele Leserinnen und Leser bitter beschwert hatten, nämlich erst am 31. August.

Vor allem der Zeitpunkt der Veröffentlichung steht in der Kritik, da der Artikel nur gut einen Monat vor der bayrischen Landtagswahl veröffentlicht wurde.

Für die Leser der SZ blieb im Dunkeln, warum die SZ ausgerechnet jetzt, kurz vor den Wahlen in Bayern, einen rund 35 Jahre zurückliegenden Vorgang hochkocht. Damit machte es die SZ den Betroffenen leicht, das Ganze als eine Polit-Kampagne der grünlinken Zeitung gegen Aiwanger hinzustellen.

Nach Aussage der SZ wurde die Recherche zum Fall Aiwanger Anfang August begonnen, als ein entsprechender Hinweis einging, zuvor war der Redaktion der Vorfall nicht bekannt.

Das glaube ich gern – umso wichtiger wäre es gewesen, von Anfang an Transparenz zu schaffen und der Öffentlichkeit zu sagen, dass die SZ-Journalisten erst wenige Tage zuvor von der Existenz dieses Flugblattes erfahren haben.

Am 30. August twitterte Aiwanger: &bdquo;#Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los.“ Wie beurteilen Sie diesen Vorwurf der Schmutzkampagne?

Der Beschuldigte wird dies so empfunden haben. Und ja: Viel Schmutz konnte man sehen. Und eine Kampagne war es auch.

Was bringt Sie dazu, von einer Kampagne zu sprechen?

Sehen Sie, die ersten Artikel erschienen am 25. August. Am nächsten Tag dann der große Aufmachertext auf Seite drei, der mit sehr vielen Schilderungen das schon Bekannte wiederkäut und aufbauscht. In den folgenden zehn Tagen brachte die Süddeutsche insgesamt 125 Texte zum Fall Aiwanger. Das sind pro Erscheinungstag im Mittel mehr als zehn Artikel. Im selben Zeitraum brachte die SZ über das soziale Brennpunktthema &bdquo;Kindergeld“ zehn Beiträge. Und im selben Zeitraum publizierte die SZ vier Berichte, in denen das ebenso brennende Thema Wohnungsnot vorkam. Ich denke, nur schon diese Häufigkeiten sagen genug.

Stefan Niggemeier vom Online-Portal Übermedien schreibt, es wäre gut gewesen, sich unangreifbar zu machen. Teilen Sie diese Meinung? Welchen Vorteil hätte die SZ daraus gezogen?

Wir sollten hier drei Problemkreise unterscheiden. Erstens die Sachebene: Hat die SZ richtig berichtet und auch offengelegt, was sie zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung (noch) nicht wusste? Aus meiner Sicht hat sie den Sachverhalt korrekt dargestellt. Die zweite Ebene ist die Darstellungsweise: Wie wurde über den Fall berichtet? Und da hat die SZ vor allem am 26. August ihren Report auf Seite drei - wir würden sagen - mit zu viel Schaum vor dem Mund geschrieben.

Dieser Text ist eine Montage aus Fakten, Beobachtungen, Eindrücken und Meinung. Die Botschaft lautet: Habt ihr gemerkt, dass der Aiwanger ein übler, heimlicher Antisemit ist? Und diese Botschaft ist angekommen. Beim Vorwurf &bdquo;Antisemit!“ verliert man in Deutschland jede Beißhemmung. Die dritte Problemebene habe ich schon erwähnt: Mangels Transparenz konnte fast eine Woche lang wild über die Motive der SZ spekuliert werden, warum sie ihre Geschichte gerade jetzt veröffentlicht. Der Verdacht, die SZ wolle Aiwanger abschießen, lag nahe.

An der Berichterstattung zu Hubert Aiwanger wurde auch kritisiert, dass der Vorfall schon über drei Jahrzehnte zurückliegt. Sehen Sie die Berichterstattung vor dem Hintergrund des öffentlichen Interesses und dem politischen Diskussionspotenzial als trotzdem berechtigt?

Die antisemitische Flugblattaktion der Brüder Aiwanger hat deren Schule vor 35 Jahren aufgegriffen und Aiwanger bestraft. Darüber hatte auch das dortige Lokalblatt berichtet. Dass die SZ erst 35 Jahre nach dem Flugblatt-Ereignis diesen Skandal publiziert, ist für die SZ-Journalisten wohl ein bisschen peinlich, denn sie zeigt, dass in der Zeit, als Aiwanger in die bayrische Regierung aufgenommen wurde, die prekäre Biografie des Freie Wähler-Chefs nicht nachrecherchiert wurde.

Hätte sich die SZ zu ihrer Unterlassung bekannt und ihren jetzigen Aufklärungseifer begründet, wäre dies der Glaubwürdigkeit sehr zugutegekommen. Auf mich wirkt die unverhältnismäßige Intensität der Berichterstattung so, als wolle die SZ ihre frühere Schlafmützigkeit mit großem Getöse überspielen. Tatsächlich sind ja viele Berichte hoch redundant, indem schon bekanntes immer aufs Neue wiederholt wird.

Der Fall Aiwanger wurde nicht nur in der SZ, sondern in der gesamten deutschen Medienlandschaft breit aufgefasst. Ist die Berichterstattung deutscher Medien im Fall Aiwanger im Großen und Ganzen gut verlaufen oder gab es auch hier Verfehlungen?

Das Doppelthema Antisemitismus und Prominenz triggert stark. Und wenn der Vorwurf zudem gegen einen missliebigen Populisten geht, der politisch irgendwo zwischen CSU und AfD einzuordnen ist, dann ist die Jagdlust der Medienmeute riesengroß. Denken Sie an die derzeit in vielen Bundesländern heftig geführte Debatte, ob und wie deutlich die Ultrarechten politisch auszugrenzen seien. Dazu liefert die Figur Aiwanger ein wunderbares Exempel. Wann sonst kann man diese rassistische Denkweise so authentisch vorführen, wie mit diesem Flugblatt?

Die Medien folgten deutschlandweit der Thematisierung der SZ. Auch quantitativ. Wenn Sie sämtliche 180 deutsche Tageszeitungstitel (Print und online) durchsehen, die Wiso/Genios in seiner Datenbank speichert, dann finden Sie für die genannten Zeit bis Ende August 2.491 Treffer. Knapp die Hälfte davon sind wegen der vielen Lokalausgaben derselben Blätter Duplikate. Bleiben noch rund 1.300 Berichte zum Fall Aiwanger. Sie sehen daran, dass praktisch alle Medien auf diesen Zug aufgesprungen sind. Sie fanden es wohl auch spannend, selbst ein bisschen Brennholz ins bayerische Polit-Feuer zu legen und zuzuschauen, ob Söder oder Aiwanger - oder beide oder keiner von beiden - aus dem Kochtopf springen werden. Wir sehen heute: beide bleiben drinnen.

Allgemein gefragt: Es ist die Aufgabe der Medien, als 4. Gewalt ihre Kontroll-, Informations- und Meinungsbildungsfunktion vollumfänglich auszufüllen. Wurden die Medien dieser Aufgabe während der letzten Wochen des Aiwanger-Skandals gerecht?

Grundsätzlich ja. Der Fall ist zweifellos von öffentlichem Interesse und für die Meinungs- und Willensbildung der Menschen von großer Bedeutung, auch weil er die Denkmuster im rechten Spektrum der bayerischen Parteien so anschaulich macht. Allerdings sind die Wichtigtuereien und die Fehlleistungen vor allem der SZ sehr ärgerlich, weil sie die Polarisierung in der politischen Öffentlichkeit verschärfen und insofern die Aufklärungsarbeit der SZ konterkarieren.

Zum Schluss noch das Thema Verdachtsberichterstattung: Dürfen Medien über einen Verdacht berichten bei Fällen wie dem von Aiwanger?

Im Fall von Aiwanger geht es in erster Linie nicht um Kolportagen und Unterstellungen, sondern um Sachverhalte, die man recherchieren und abklären kann: Das Flugblatt liegt unstrittig vor, geklärt werden muss die Autorenschaft, die Distribution der Inhalte und die damalige Gruppe der Mittäter und Mitläufer. Die Journalisten berichten darüber, was unstrittig feststeht und was strittig bzw. noch ungeklärt ist. Das alles ist keine Verdachtsberichterstattung. Diese setzt dort ein, wo man es mit Behauptungen, Unterstellungen und Indizien zu tun hat, die eingeschätzt werden müssen.

Im Fall Aiwanger gilt dies vor allem für die Motivationsebene: Stimmt es, dass der junge Aiwanger das Flugblatt &bdquo;nur“ im Schulranzen herumgetragen und sich mit dem Inhalt nicht identifiziert hat? Warum entschuldigen sich die Brüder Aiwanger heute nicht für jene Taten? Ich denke, kluge Journalisten formulieren ihren Verdacht als spekulierende Meinungsäußerung. Diese Vorgehensweise ist ebenfalls ein Gebot der Transparenz: Seht her, das hier sind die Tatsachen, und dort lest ihr unsere Einschätzung und Bewertung als Kommentar.

Die Aiwanger-Affäre und die Medien: Medienwissenschaftler im Interview

Nach Epstein-Artikel: US-Zeitung darf nicht auf Trump-Reise

Tool kann politische Feindseligkeit auf X verringern

Netzagentur gibt Bußgeldverfahren gegen Mobilfunker 1&1 auf

Marktforscher: Apple stößt Samsung vom Smartphone-Thron

Social-Media ab 16? Auch EU-Parlament fordert Mindestalter

Mehr KI: HP streicht bis zu 6.000 Jobs

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

LZplus Black-Deal

1 € pro Woche

Weiterlesen mit LZplus