Folter, Vergewaltigung, Gewalt: Was Ukrainer auf der Flucht erleben

Am Tag vor seinem 21. Geburtstag hat Artem endlich die Ukraine erreicht. Nach einer viertägigen Odyssee ist er gerade im Übergangszentrum in der ostukrainischen Stadt Sumy von Helfern in Empfang genommen worden. &bdquo;Ich bin sehr glücklich“, sagt der junge Mann, der seinen gesamten Besitz in einem großen Armeerucksack auf dem Rücken trägt.

Artem stammt von der Halbinsel Krim, die Russland im Jahr 2014 völkerrechtswidrig annektiert hat. &bdquo;Zehn Jahre habe ich darauf gewartet, dass die ukrainischen Streitkräfte uns befreien“, sagt er. &bdquo;Dann habe ich beschlossen, zu gehen.“

Seine Familie auf der Krim werde er nicht vermissen, er wolle sie auch nicht wiedersehen. &bdquo;Sie haben sich einer Gehirnwäsche mit russischer Propaganda unterzogen.“ Nie wieder werde er auf die Krim zurückkehren.

Rund 20 Prozent der Ukraine halten russische Truppen besetzt. Wer aus diesen Gebieten in den freien Teil des Landes fliehen möchte, muss zunächst nach Russland überwechseln – und dann durch einen humanitären Korridor über den einzigen noch passierbaren Grenzübergang Pokrowka in die Ukraine.

Fast 20.000 Ukrainer laut Hilfsorganisation aus besetzten Gebieten geflüchtet Die Neuankömmlinge werden zunächst von den Behörden registriert und dann ins Übergangszentrum in Sumy gebracht, wo sie versorgt werden und übernachten können. Kateryna Arisoy von der Hilfsorganisation Pluriton leitet das Zentrum, durch das nach ihren Angaben seit der Gründung im März 2023 rund 19.000 Ukrainer gekommen sind.

Dort packen Helfer Jutetaschen mit Lebensmitteln, Handtüchern und Hausschuhen für die Neuankömmlinge. Im Flur stehen Kartons des UN-Kinderhilfswerks Unicef mit Winterkleidung. An der Wand hängen Zettel mit den Zugangsdaten für das Internet. Es gibt mehrere Schlafsäle mit Stockbetten, auf denen Wolldecken und Kissen bereitliegen. Falls es bei großem Andrang eng wird, sind im Flur als Reserve blaue Feldbetten gestapelt.

Vom Flur geht ein Spielzimmer für Kinder ab, auf dem Boden liegen bunte Matten und gemütliche Sitzkissen, an der Wand steht ein Regal mit Büchern, Spielzeug und Kuscheltieren. In einem anderen Raum werden Suppe und Kekse, Tee und Kaffee gereicht. Für die erschöpften Ankömmlinge ist das Zentrum eine Oase, in der sie nach einer furchtbaren und oftmals gefährlichen Odyssee zur Ruhe kommen können. Der Grenzübertritt ist alles andere als gewöhnlich, schließlich befinden sich Russland und die Ukraine im Krieg.

Prügel und Drohungen &bdquo;Manchmal lassen die Russen jemanden nicht durch“, sagt Artem. &bdquo;Sie durchsuchen alles, was die Menschen dabeihaben. Auf den Mobiltelefonen suchen sie sogar nach gelöschten Nachrichten.“ Er habe beobachtet, wie russische Grenzer einen alten Mann verprügelt und abgeführt hätten. Einem Freund von ihm hätten russische Sicherheitskräfte gedroht, ihn mit verbundenen Augen auf einem Minenfeld auszusetzen oder ihn von tschetschenischen Soldaten vergewaltigen zu lassen, sollte er versuchen, auszureisen.

Artem sagt, die russischen Sicherheitskräfte an der Grenze hätten ihn darüber verhört, was er in der Ukraine wolle. &bdquo;Ich habe ihnen geantwortet, dass ich dort Geld abholen muss.“ Der russische Geheimdienst FSB habe ihn beim Übertritt einem strengen Sicherheitscheck unterzogen und seine Nachrichten auf seinem Mobiltelefon durchgeschaut.

&bdquo;Die FSB-Mitarbeiter haben versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich in der Ukraine für sie spionieren soll“, sagt Artem. &bdquo;Ich habe ihnen gesagt, dass ich für sie arbeiten würde. Aber das werde ich natürlich nicht tun.“ Wie seine Zukunft konkret aussehen soll, weiß er nicht. Zunächst will er in die ukrainische Hauptstadt Kiew reisen und sich dort nach einem Job umschauen.

Kein Beschuss und keine Arbeit Mit Artem ist auch eine 50-Jährige mit ihrer Tochter in dem Übergangszentrum angekommen, die Frau will ihren Namen nicht nennen. Sie kommt aus dem russisch besetzten Teil der Region Cherson und will in die westukrainische Stadt Lwiw (Lemberg). &bdquo;Der Rest meiner Familie ist schon geflohen“, sagt sie. &bdquo;Jetzt sind meine Tochter und ich auch gegangen. Ich bin froh, endlich hier zu sein.“

Mehr als 30 Stunden seien sie unterwegs gewesen. Der Weg habe sie unter anderem durch die weitgehend zerstörte Hafenstadt Mariupol geführt, die russische Truppen zunächst belagert und im Mai 2022 vollständig erobert hatten. &bdquo;Ich war geschockt über das Ausmaß der Zerstörung.“ An der Grenze hätten russische Sicherheitskräfte versucht, sie davon zu überzeugen, dass die Lage in der Ukraine sehr schlecht sei. &bdquo;Sie haben uns gesagt, dass uns hier niemand brauchen würde.“

In den besetzten Gebieten sei es ziemlich ruhig, sagt die 50-Jährige. &bdquo;Es gibt da keinen Artilleriebeschuss.“ Was es allerdings auch nicht gebe, sei Arbeit. Auch sie wirft den russischen Besatzungstruppen vor, Ukrainer zu verschleppen und zu foltern. &bdquo;Erst vor Kurzem wurde ein ukrainisch-orthodoxer Priester von ihnen gefoltert und ermordet.“

Vorwurf der Folter durch Russen ist häufig zu hören Solche Beschuldigungen lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen. Russischen Truppen wird seit dem Überfall der Ukraine international immer wieder vorgeworfen, dass sie foltern. Und wer mit Ukrainern spricht, die zeitweise unter russischer Besatzung gelebt haben, hört sehr ähnliche Berichte über Folter – etwa, dass Menschen verschleppt und dann in Folterkellern mit Stromschlägen gequält werden. Auch eine UN-Kommission hat Beweise für &bdquo;Kriegsverbrechen wie Folter, Vergewaltigung und andere sexuelle Gewalt“ gefunden.

Tatjana ist nach der Registrierung bereits in einen der Schlafsäle gewechselt, sie sitzt unten auf einem Stockbett. Sie kommt ebenfalls aus der Region Cherson, ist 67 Jahre alt und verzweifelt. Auf dem Weg sei sie ausgeraubt worden, sagt sie. &bdquo;Ich habe gar nichts mehr.“ Auf die Frage, warum sie geflohen sei, antwortet sie: &bdquo;Ich habe entschieden, nicht mehr unter der Besatzung leben zu wollen.“ Ob sie froh sei, jetzt in der Ukraine zu sein? &bdquo;Nein, ich bin deprimiert. In Kriegszeiten kann man nicht froh sein.“

Grenzübertritt geht nur zu Fuß Helferin Arisoy sagt, beim Übertritt sei besonders problematisch, dass zwischen der russischen und der ukrainischen Seite zwei Kilometer Weg lägen, die die Menschen zu Fuß bewältigen müssten. &bdquo;Wir bekommen fast jeden Tag Menschen mit Behinderungen. Manche sind auf einen Rollstuhl angewiesen. Für sie ist das eine riesige Herausforderung.“ Umdrehen und zurückkehren nach Russland dürfe niemand.

&bdquo;Oft erwarten wir die Menschen auf unserer Seite schon mit Krankenwagen, um sie ins Krankenhaus zu bringen“, sagt Arisoy. &bdquo;Viele sind in einem sehr schlechten Zustand. Es ist kein Geheimnis, dass die medizinische Versorgung in den besetzten Gebieten unzureichend ist.“ Häufig werde sie von Familien vorgewarnt, dass hilfsbedürftige Angehörige kämen. So werde etwa am nächsten Tag ein alter Mann mit einer Krebserkrankung erwartet, der nicht mehr laufen könne. &bdquo;So etwas ist ein großes Problem.“

Frau ist mit 45 Katzen aus dem besetzten Gebiet geflüchtet Am Eingang des Zentrums hängt ein Plakat, das eine junge Frau zeigt, die eine Tasche trägt, auf der ein Herz in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb prangt. Auf dem Arm hält sie eine Katze. &bdquo;Zu Hause ist, wo die Ukraine ist“ lautet der Text auf dem Poster. &bdquo;Das steht symbolisch für alle, die hierhin kommen“, sagt Arisoy. &bdquo;Sie tragen ihr ganzes Leben in einer Tasche.“ Manche zeigten sich allerdings kreativ, wenn es darum gehe, mehr als nur eine Tasche mitzunehmen – etwa jene Frau mit ihren 45 Katzen, die sie in Käfigen auf einem Handkarren hinter sich hergezogen hat.

&bdquo;Wir haben sie auf unserer Seite mit einem Transporter abgeholt“, sagt Arisoy, sie zeigt Bilder von der Aktion auf ihrem Handy. Das sei natürlich ein Extrembeispiel. &bdquo;Aber wir bekommen fast jeden Tag Menschen, die mit ihren Haustieren kommen. Ihnen ist das Leben ihrer Tiere oft wichtiger, als irgendwelche Gegenstände mitzunehmen.“ Im Übergangszentrum sind auch Haustiere erlaubt.

Arisoy sagt, bis Mitte vergangenen Jahres hätten die Menschen die Grenze noch mit Autos überqueren können, dann hätten die Russen das verboten – und den Übertritt damit viel schwieriger gemacht. Im Schnitt kämen derzeit rund 60 Menschen am Tag aus den besetzten Gebieten, bei kaltem Winterwetter sei die Zahl geringer als sonst.

Bis zu 200 Menschen am Tag Zu Hochzeiten seien es täglich rund 200. &bdquo;Das jüngste Kind, das wir hier bekommen haben, war ein zwei Monate altes Mädchen.“ Den Altersrekord halte eine 97 Jahre alte Frau. Das Übergangszentrum habe erst näher an der Grenze gelegen. Als das wegen der Bedrohung durch russische Artillerie zu gefährlich geworden sei, sei es nach Sumy gezogen. Von hier aus ist Russland rund 35 Kilometer entfernt.

Arisoy stammt selbst aus Bachmut, im Januar vergangenen Jahres war die junge Frau zuletzt in der Stadt im Osten der Ukraine. So bald wird sie dahin nicht mehr zurückkehren können: Nach monatelangen blutigen Gefechten eroberten im vergangenen Mai russische Truppen Bachmut.

Arisoy sagt, der Satz, den sie von Menschen nach der Ankunft in der Ukraine am häufigsten höre, sei dieser: &bdquo;Hier kann ich endlich wieder atmen.“ Häufig beobachte sie, dass Neuankömmlinge zunächst noch aus Gewohnheit flüsterten, wenn sie redeten. &bdquo;In den besetzten Gebieten sind sie nicht frei“, sagt Arisoy. &bdquo;Dort gibt es kein Leben.“

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