Kanzler Scholz kündigt anderen Stil an: „Meine Lehre aus der Koalition“

Als die Fotografin das Bild von ihm und den Interviewerinnen macht, muss er niesen. Journalistenallergie? &bdquo;So schlimm ist es nicht“, sagt Olaf Scholz. Zu Späßen ist ihm beim Gespräch im Kanzleramt kaum zumute, die Lage nach dem gemeinsamen Votum von Union und AfD sei zu ernst.

Herr Bundeskanzler, mit einer Woche Abstand zur aufgewühlten Debatte im Bundestag über die gemeinsame Abstimmung von Union und AfD: Die demokratische Mitte hat sich als kompromissunfähig erwiesen, auch Ihre SPD hat keinen Ausweg gefunden. War es das wert?

Nein, ganz sicher war es fahrlässig und falsch, dass Herr Merz sein Wort und ein Tabu gebrochen hat. Ein Tabu, das er selbst im November im Deutschen Bundestag noch einmal erneuert hatte: Niemals dürfe es zu einer Mehrheit kommen mit der AfD. Zwei Monate später wollte er davon nichts mehr wissen. Gegen den Aufstieg einer extrem rechten Partei ist Haltung und Charakter nötig. Beides hat Herr Merz vermissen lassen.

Es ging in dem dann gescheiterten Gesetzentwurf der Union um einen Stopp des Nachzugs von Familien von Geflüchteten mit subsidiärem Schutzstatus – sie gelten in ihrer Heimat als bedroht. Die SPD wollte nicht darüber sprechen.

Die SPD-Fraktion war und ist stets bereit, über Vorschläge der Union zu sprechen. Das Grundgesetz ist eindeutig: Wer hier viele Jahre lebt, weil er in seiner Heimat bedroht wird, darf irgendwann Ehepartner oder Kinder zu sich holen. Das wollte die Union komplett ausschließen. Über alles, was nicht gegen Recht und Gesetz verstößt, hätten wir reden können.

Im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 war der Familiennachzug schon einmal ausgesetzt worden.

Damals ging es um eine zeitlich befristete Aussetzung, nicht darum, den Nachzug komplett zu beenden, wie es CDU/ CSU jetzt vorschlug.

Würden Sie denn einer Aussetzung zustimmen, könnte es damit in der letzten Sitzungswoche vor der Bundestagswahl noch eine Annäherung geben?

Angeblich geht es der Union ja darum, die irreguläre Migration nach Deutschland zu begrenzen. Dazu liegen fertige Gesetzentwürfe vor, die CDU und CSU seit Monaten blockieren. Ganz konkret kann der Bundestag nächste Woche noch die Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems beschließen. Damit würden die Außengrenzen Europas besser geschützt, mehr Asylverfahren an den Grenzen durchgeführt werden, eine Registrierung und solidarische Verteilung der Flüchtlinge auf die Staaten der EU vorgeschrieben. Und vor allem können wir die, die ihr Asylverfahren in einem anderen EU-Land durchführen müssen, dorthin zurückschicken. All das hält die Union bisher auf. Genauso im Übrigen wie das Gesetzespaket, das der Polizei mehr Handlungsmöglichkeiten gibt.

Würden Sie der Union dieses Angebot machen: Wir reden sowohl über die blockierten Gesetze als auch über eine Aussetzung des Familiennachzugs?

Meine Regierung ist immer bereit gewesen, über Gesetzesvorschläge der Union zu sprechen. Leider zeigt die Erfahrung der vergangenen zwei Jahre, dass der Oppositionsführer nie verhandeln will. Stets verlangt er, dass seine Vorschläge ungesehen und unverändert akzeptiert werden müssen. Vorschläge im Übrigen, die oft nicht mal von den CDU-Ministerpräsidenten unterstützt werden. Ein Beispiel: Im November 2023 diskutierten Bund und Länder über die Migrationspolitik. Freitags lud ich Herrn Merz und Herrn Dobrindt ins Kanzleramt ein, um darüber zu sprechen, ob aus seiner Sicht weitere Schritte nötig seien. Kurz darauf einigten sich alle Länderchefs – CDU, CSU, SPD und Grüne – mit mir auf ein hartes Migrationspaket. Und direkt danach ließ Merz verkünden, für ihn hätten sich alle Gespräche erledigt. Zur Demokratie gehört das Gespräch, der Kompromiss – das weiß jeder, der schon mal Regierungsverantwortung gehabt hat.

Was bedeutet das Ihrer Ansicht nach für die Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl? Können Sie sich ein Bündnis mit der Union noch vorstellen?

Grundsätzlich gilt: Alle demokratischen Parteien müssen in der Lage sein, miteinander zu sprechen. Klar ist auch: keine Zusammenarbeit mit der extremen Rechten. Allerdings lehrt uns das Beispiel Österreich, dass man sich darauf nicht mehr bei jedem verlassen kann. Dort haben 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler für Parteien gestimmt, die vor der Wahl gesagt haben, dass sie eine Zusammenarbeit mit den extremen Rechten ablehnen. Und nun wird voraussichtlich die Schwesterpartei der Union – die ÖVP – einen Kanzler der extrem rechten FPÖ unterstützen.

Glauben Sie ernsthaft, dass CDU-Chef Friedrich Merz mit der AfD zusammengeht, wenn Verhandlungen mit SPD und Grünen schwierig werden?

Wer sein Wort bricht, nimmt in Kauf, dass man seinen Beteuerungen nicht mehr glaubt.

Herr Merz hat eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen.

Glauben ihm die Bürgerinnen und Bürger das jetzt noch?

Sie rechnen mit österreichischen Verhältnissen? Ihre Schwesterpartei SPÖ hatte es auch nicht vermocht, Kompromisse für eine Koalition mit der ÖVP einzugehen.

Wenn meine Amtszeit eines gezeigt hat, dann doch die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen mit schwierigen Partnern. Als Kanzler habe ich immer wieder sehr geduldig für Verständigungen mit Grünen und FDP gesorgt, und habe dafür einen erheblichen Ansehensverlust als Person hingenommen. Das war ein hoher Preis. Viele Bürgerinnen und Bürger hätten sich gewünscht, dass ich öfter öffentlich auf den Tisch gehauen hätte.

Sollte es zu einem Kabinett Scholz II kommen, würden Sie dann öfter auf den Tisch hauen?

Ja, eben nicht nur intern, sondern auch öffentlich – das ist meine Lehre aus der Koalition. Zu oft hat der Streit gute Beschlüsse überlagert. Wer weiß denn, dass wir ganz weitreichende Verschärfungen der Migrationspolitik durchgesetzt haben? Mehr Grenzkontrollen, mehr Rückführungen? Dass die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, um mehr als 30 Prozent zurückgegangen ist? Oder dass Rückführungen um ein Fünftel gestiegen sind? Dass wir im Januar die zweitniedrigste Zahl der Asylgesuche seit einem Jahrzehnt haben. Es muss öffentlich immer deutlich werden, worum es geht.

Noch mehr Streit?

Wir werden eine neue Mischung finden müssen. Politik muss öffentlich nachvollziehbarer werden. Ich denke oft darüber nach, dass wesentliche Fragen in der Gesellschaft gar nicht mehr miteinander diskutiert werden – im Sportverein, auf der Arbeit, im Wirtschaftsverband, der Gewerkschaft. Gewisse Interessengegensätze prallen manchmal erst in der Regierungskoalition aufeinander. Das vergurkte Heizungsgesetz ist ein gutes Beispiel dafür – darüber hätten wir erst eine Debatte mit den Bürgerinnen und Bürgern gebraucht, um dann innerhalb der Regierung eine Lösung zu finden.

Haben Sie beim Erstarken der AfD eigene Versäumnisse zu verantworten?

Na ja, über das Miteinander in der Koalition haben wir schon gesprochen. Allerdings ist das Erstarken der extremen Rechten kein rein deutsches Problem: Solche Entwicklungen sehen wir in fast allen unseren Nachbarländern. Und auch in den USA wird rechter Populismus stärker. Mein Rezept: begründete Zuversicht. Deutschland hat allen Anlass, positiv in die Zukunft zu blicken. Als Land mit 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sind wir die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Unter den größten Wirtschaftsnationen haben wir die geringste Neuverschuldung. Wir haben top ausgebildete Beschäftigte und investieren so viel wie kein anderes Land in Europa in Forschung und Entwicklung. Wir können unsere aktuellen Herausforderungen also bewältigen.

Haben die Strafzölle von US-Präsident Donald Trump gegen andere Länder das Potenzial für einen Handelskrieg und in der Folge dann eine Weltwirtschaftskrise?

Die Weltwirtschaft braucht weniger Handelshürden und nicht mehr. Die Globalisierung hat für viel Wohlstand gesorgt, überall in der Welt. Deutschland profitiert davon mit seiner sehr leistungsfähigen Exportindustrie. So muss es bleiben. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass wir als Europäische Union zusammenhalten und deutlich machen: Die EU mit ihren 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist stark und handlungsfähig.

Sie drohen Trump mit Vergeltungszöllen der EU?

Ich setze auf Kooperation, nicht auf Konfrontation. Unsere Hand ist ausgestreckt, denn Zölle sind für niemanden gut. Sollte es dennoch zu solchen Schritten der USA kommen, ist die EU-Kommission in der Lage, binnen Stunden zu reagieren.

Sie haben Trump bisher in Europa am schärfsten widersprochen. Was haben Sie erreicht?

Als Kanzler des größten EU-Landes sehe ich es als meine Aufgabe an, den Rücken geradezumachen und klare Worte zu finden, wenn ein kleinerer Staat wie Dänemark herausgefordert wird. Wichtig ist mir: Die USA sind unser wichtigster Verbündeter. Die transatlantische Zusammenarbeit ist von größter Bedeutung. Deshalb werden wir weiter alles für ein gutes Verhältnis tun. Auch wenn es mal kompliziert wird.

Es ist von einer Friedenstruppe für die Ukraine nach dem Krieg die Rede. Sie sind skeptisch. Sollte sich Deutschland daran nicht beteiligen?

Solche Debatten empfinde ich als unangemessen und verfrüht. Denn man geht dann ja davon aus, dass die Ukraine Teile ihres Territoriums von Russland nicht zurückbekommt. Ich meine es sehr ernst, wenn ich sage, dass nichts über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg entschieden werden darf. Erst braucht es ein Ende des Konflikts und wirkliche Verhandlungen, keinen Diktatfrieden. Dann lässt sich auch erst ersehen, wie künftige Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen könnten. Die Ukraine wird auf alle Fälle eine Armee haben, die sie mit ihren finanziellen Mitteln allein nicht wird bezahlen können, da werden wir und alle Freunde der Ukraine gefragt sein.

Trump will bereits einen Deal machen: US-Hilfe für Kiew gegen Nutzung der seltenen Erden im Land. Redet Europa da überhaupt noch mit?

Die Ukraine wird angegriffen, und wir stehen ihr bei, ohne uns das bezahlen zu lassen. Das sollte die Haltung aller sein.

Sie hatten lange vor dem Ampel-Aus gesagt, Sie würden sich freuen, wenn die Union Friedrich Merz zum Kanzlerkandidaten macht. Hat er Ihre Erwartungen erfüllt?

Ich würde gerne lustig darauf antworten. Nach dem Tabubruch der vergangenen Woche und der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD geht das nicht mehr.

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