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DDR-Flucht mit der letzten S-Bahn

Wulf Daneyko

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Horst und Rita Menzel mit ihren alten DDR-Facharbeiterzeugnissen von 1954. - © Wulf Daneyko
Horst und Rita Menzel mit ihren alten DDR-Facharbeiterzeugnissen von 1954. (© Wulf Daneyko)

Kalletal-Hohenhausen/Berlin. Die Sektorengrenze wurde abgeriegelt, Verkehrsverbindungen wurden gekappt, danach wurde Stein auf Stein geschichtet. Vor 55 Jahren, am 13. August 1961, begann der Bau der Berliner Mauer. Ein besonderes Datum auch für Rita und Horst Menzel aus Hohenhausen. Ihnen war nur einen Tag zuvor die Flucht aus der DDR gelungen - mit der letzten S-Bahn.

Eigentlich hatten sie sich im „Arbeiter- und Bauernstaat" ganz gut eingerichtet, ihr Sohn Carsten war zwei Jahre alt. „Gerade erst waren wir nach Hoyerswerda gezogen, weil ich beim Bau eines Kohlekraftwerks Arbeit gefunden hatte", erinnert sich Horst Menzel. Doch er hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, aus der DDR zu fliehen, weil seine Verwandten im Westen lebten.

„Im Juni 1961 besuchten wir meine Schwiegereltern in Hohenhausen. Als ich die schöne Landschaft sah und die vollen Geschäfte, wollte ich auch hierher. Bei uns in der Mangelwirtschaft gab es nicht mal Obst für den Jungen zu kaufen", erzählt Rita Menzel.

Zurück in Hoyerswerda planten sie heimlich ihre Flucht. Am 8. August 1961 wurde Horst auf der Arbeit von einem Kollege angesprochen, der von ihren Absichten Wind bekommen hatte: „Wenn du abhauen willst, dann möglichst bald." Er hatte gehört, dass die Grenze zum Westen zugemacht werden sollte. „Nun musste alles schnell gehen", erinnert sich Horst Menzel. Sofort brachte er alle Wertsachen zu den Verwandten. Vieles verkauften oder verschenkten sie an Freunde und Bekannte. Einige Pakete mit ihren Halbseligkeiten schickten sie nach Hohenhausen.

„Damit es nicht auffiel, fuhr ich jedes Mal zu einem anderen Postamt." Am 12. August fuhren sie, getarnt als Wochenendreisende, mit Bus und Zug los. Falls sie kontrolliert werden würden, hatten sie für jede Etappe Hin- und Rückfahrkarten gekauft. „Um nicht aufzufallen, trugen wir nur einen Campingbeutel und eine kleine Tasche bei uns. In deren Boden hatte ich unser gesamtes Geld eingenäht", berichtet Rita.

Als Grenzer sie kontrollierten, spielten sie die Ausflügler. Dass sie nur kleines Gepäck dabei hatten, war ihr großes Glück. Denn wer Koffer trug, den holten Soldaten an der Grenze aus dem Zug. Menzels offizielles Fahrtziel war Ost-Berlin. „Wir wussten aber, dass die S-Bahn auf der Fahrt dorthin ein Stück durch West-Berlin fahren muss." 20 Pfennig kostete der Fahrschein in den Westteil. An der ersten Haltestelle im Westteil stiegen sie aus - und hatten es geschafft.

Wenige Stunden später riegelte die DDR die Grenze ab. Als Menzels am nächsten Morgen im Aufnahmelager Marienfelde davon erfuhren konnten sie es nicht glauben. „Als ich den Stacheldraht sah, die Soldaten mit Gewehren und die Panzer, da wurde mir klar, dass ich nie mehr zurück nach Hause kann", sagt Rita. Sie erfuhren, dass sie mit der letzten S-Bahn in den Westen gekommen waren, denn der Grenzverkehr war schon am Abend zuvor eingestellt worden. „Wir hatten unendliches Glück", sagt Horst.

Nach einer Zeit im Flüchtlingslager kamen sie in Hohenhausen an und wohnten zunächst bei den Eltern von Horst. Damals kannten sie nicht die tatsächlichen Gefahren, der sie sich mit einer Republikflucht aussetzen. „Hätte ich gewusst, dass es einen Schießbefehl gab und dass man dafür ins Zuchthaus kommen konnte oder dass einem die Kinder weggenommen würden, dann hätte ich das nie gewagt", sagt Rita heute.

Reaktion auf den Flüchtlingsstrom
„Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten", verkündete DDR-Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht noch am 15. Juni 1961. Keine zwei Monate später, in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961, gab er den Befehl zur Abriegelung der sowjetischen Sektorengrenze nach West-Berlin. Am frühen Morgen waren Panzer aufgefahren und bewaffnete Grenzpolizisten begannen, einen Stacheldrahtzaun zu ziehen. Die DDR wollte damit den ständig steigenden Flüchtlingsstrom gen Westen unterbinden. Am 18. August wurde entlang des Grenzverlaufs schließlich eine Mauer mitten durch Berlin gebaut, die von DDR-Seite „Antifaschistischer Schutzwall" genannt wurde. Erst 1989, 28 Jahre später, fiel die Mauer.

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