Ensemble Boulevard Baroque holt in Detmold den Passionsgedanken ins Hier und Jetzt

Detmold. Was kann uns Musik, die vor mehr als 300 Jahren entstand, als die Welt noch eine völlig andere war, heute noch bieten? Regelmäßig wird darüber diskutiert, angemahnt, wachgerüttelt – Konzertsäle sind zunehmend weniger besucht. Dass es auch anders geht, das bewies das Originalklangensemble Boulevard Baroque in der Detmolder Martin-Luther-Kirche.

Das von Karla Enríquez gegründete und künstlerisch geleitete Barockensemble belebt seit einigen Jahren mit experimentierfreudigen Konzertformaten die in Detmold spärlich vorhandene Alte-Musik-Szene. Unter dem Titel &bdquo;Our Passion“ bot das Ensemble eine im positiven Sinne eigenwillige Form des Passionskonzertes als genreübergreifende Konzeptklangkunst.

Zeitloses Gesamtkunstwerk In der knapp 75-minütigen Aufführung fügten sich Musik von Johann Sebastian Bach, Filmsequenzen und szenische Darstellung zu einem zeitlosen und dabei aktuellen Gesamtwerk über das Thema Passion zusammen. Was kann der in christlich-biblischer Tradition verankerte Begriff Passion heute noch mitteilen? Dem ging das Ensemble Boulevard Baroque in einem emotional packenden, dabei nicht aufdringlichen Konzertkonzept nach und holte den Passionsgedanken ins Hier und Jetzt.

Drei Schwarz-weiß-Filmeinspielungen auf großer Leinwand im Altarraum der Kirche berichteten über persönliche Leidenswege. Einzelne Ensemblemitglieder erzählen darin in kurzen Episoden von ihrem erfahrenen Leid aus vergangenen Tagen. Da ist die Geigerin, die über die Alkoholsucht ihres Vaters spricht, die die gesamte Familie und ihre Kindheit toxisch bestimmt. Da ist der Cellist, der mit dem Freitod seines Bruders hadert und mit der für ihn unerträglichen Leere zurechtkommen muss. Schließlich der Cembalist, der über seine mangelnde Vertrauensfähigkeit reflektiert, ohne dabei die Türen der Missbrauchsthematik zu öffnen. Ist das Voyeurismus, sich das Leid anderer für ein Kunstereignis anzueignen? Ist es gar egozentrische Zurschaustellung von Leid? Mitnichten.

Ästhetische Schlichtheit Die filmischen Leidensgeschichten gerieten keinesfalls zu einem reißerischen Passionsspektakel. In ihrer ästhetischen Schlichtheit waren sie Bestandsaufnahmen erlittener Passionswege. Durch Schauspieler Ingmar Böske erfuhren sie ihre szenische Spiegelung, leidvoll und weitestgehend tonlos. Als drittes und entscheidendes Element dieser Passionsberichte trat die Musik eines Johann Sebastian Bachs hinzu. Exakt an dieser Schnittstelle, in Verbindung mit der Musik, wurden die persönlichen Leidenswege zur reflektierenden Kunst.

Arien aus Bachs Passionskantaten und auch aus seiner Matthäus-Passion (&bdquo;Erbarme dich“) tönten wie eine &bdquo;musica coelestis“ in ihrem himmlisch-ätherischen Duktus von Erlösung aus all dem Leid. Einen stilistischen Kontrast setzten die dramaturgisch geschickt eingeflochtenen Sätze aus der Suite für Cello solo, BWV 1011 in einer feinsinnigen Bearbeitung des Solocellisten Ira Givol für Streicher und Continuo. In ihr zeigte sich eine vor Leidensdruck seufzende Musik, eine musica humana, menschlich, realistisch, schmerzlich. Die Gegenüberstellung der beiden musikalischen Stilistiken changierten zwischen weltlichen und himmlischen Sphären, zwischen erschreckendem Leidensweg und wahrhaftiger Tröstung.

Ein solches Konzept kann allerdings nur dann sein ästhetisches Potenzial entwickeln, wenn es von musikalischem Niveau tönt. Und hier konnte das Ensemble Boulevard Baroque wieder einmal unter Beweis stellen, dass es den Vergleich mit den namhaften Gruppierungen der Alten Musik-Szene nicht zu scheuen braucht. Himmelsstimmengleich sang mit Ausdrucks- und Strahlkraft vor allem in den hohen Diskantlagen in Kombination mit einem warmen Timbre Alexander Chance. Als Sohn des legendären Counters Michael Chance führt er mit kultivierter Gesangskultur das Counterfach in die nächste Generation und war Boulevard Baroque die Idealbesetzung für die Bach-Arien. Begleitet wurde er sensibel, klarkonturiert und stilsicher durch die Streicher- und Continuogruppe des Originalklangensembles, die es auch in Minimalbesetzung schafften, die Farbigkeit der barocken Instrumente auszuloten und schillern zu lassen. Hinzugesellte sich bei einigen Arien eine obligate Barockoboe, die in homogener Klangfarbenpracht von Josep Domenech gespielt wurde.

Wohlige Schutzhülle So bedrückend die drei Filmsequenzen auch ausfielen, die anschließende Musik ließ das Publikum in seiner Ergriffenheit nicht allein. Der musikalische Gedanke um Bachs Musik ging voll auf: Wie eine wohlige Schutzhülle bettete seine Musik das gerade vernommene Leid in einen tröstenden und damit erträglichen Kontext. Musik tröstet. Musik versöhnt. Musik fängt emotional auf.

Von dieser wundersamen Eigenschaft der Musik wussten auch die drei Ensemblemitglieder in ihren Filmausschnitten zu berichten. Wenn Musik der Seele Nahrung ist, dann ist sie vor allem auch Trost. Ein solches Konzert ist in Zeiten der weltweiten Krisen wie ein kurzer Moment des Innehaltens, des Zu-Sich-Kommens, vor allem aber des Trostes. Ein solches Konzert offenbart von selbst, wie wertvoll und unverzichtbar klassische Musik ist. Allen Unkenrufe zum Trotz: voll besetzte Kirchenbänke und ein emotional berührtes, dankbares Publikum. In solchen Konzerten liegt die Wahrheit – hier lassen sich zur derweil bizarren Weltlage Trost und Zuversicht finden.

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