Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Psychologe zu Verschickungskindern: "Wahrheit liegt meist auf Seiten der Opfer"

Alexandra Schaller

  • 0
Kindern fehlt oft der Halt, wenn sie unter Heimweh leiden. - © Symbolbild: Pixabay
Kindern fehlt oft der Halt, wenn sie unter Heimweh leiden. (© Symbolbild: Pixabay)

Bad Salzuflen. Verschickungskinder aus den 1960er und 70er Jahren haben in unserer gleichnamigen Reihe von teils traumatischen Erfahrungen in der Kinderkur in Bad Salzuflen berichtet. Wie sind diese Erzählungen einzuordnen? Wem soll man glauben, wenn manch einer behauptet, es wäre gar nicht so schlimm und anders gewesen? Dr. Ulrich Preuss, Chefarzt der Salzufler Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Lippe, wirft eine psychologische Sicht auf die Dinge.

Herr Preuss, was ist die früheste Erinnerung, die Sie an Ihre Kindheit haben?

Dr. Ulrich Preuss: Oh. Da muss ich sehr klein gewesen sein, ich wurde in einem Bettchen von einem Zimmer ins andere gefahren. Es war ein sonniger Tag in Bielefeld. Wie alt ich da war, das kann ich nicht genau sagen.

Dr.med. Dr. rer. nat. Dipl. psych. Ulrich Preuss, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Lippe - © Kay Michalak/fotoetage
Dr.med. Dr. rer. nat. Dipl. psych. Ulrich Preuss, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Lippe (© Kay Michalak/fotoetage)

Wie weit können sich Menschen überhaupt zurückerinnern?

Die Säuglingszeit und die ersten zwei, drei Jahre, das ist alles sehr ungenau. Ein Problem für die Forschung ist auch, dass Erinnerungen meist durch Geschichten erzeugt werden, die Eltern oder andere Verwandte erzählen. Das Gehirn fängt an, das Ganze einzuordnen, und beginnt, Geschichten als eigene Erinnerungen wahrzunehmen.

Könnte Ihnen das auch passiert sein?

Ob die Erinnerung authentisch ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass mir das nicht erzählt wurde, sondern dass ich diese Erinnerung selbst habe.

Heißt aber, ich kann mich gar nicht so richtig auf Erinnerungen aus frühester Kindheit verlassen... Wie unterscheide ich denn eine wirkliche von einer Scheinerinnerung?

Dazu gibt es in der Wissenschaft die sogenannte Glaubhaftigkeitsbeurteilung. Über bestimmte Kriterien wird dabei ermittelt, ob der Inhalt einer Geschichte eher glaubwürdig oder eher fiktional ist. Wenn zum Beispiel jemand mit geringer Körpergröße auf zwei Metern Höhe etwas gefasst haben will, dann ist das sicherlich nachkonstruiert. Gleiches gilt, wenn Begriffe benutzt werden, die alterstypisch gar nicht vorkommen. Vielen Leuten ist das in dem Moment auch gar nicht bewusst. Wirklich schwerwiegende Ereignisse bleiben aber oft hängen.

Das könnte also auch für die traumatischen Erinnerungen gelten, von denen ehemalige Verschickungskinder berichten?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich so zugetragen hat. Oft gibt es Akten und Dokumentationen, die das Ganze belegen und die mit dem übereinstimmen, was die Betroffenen berichten.

Zumindest für Bad Salzufler Heime gibt es allerdings keine Dokumente, das gilt auch für andere Verschickungsheime.

Trotzdem stimmen viele Geschichten von Verschickungskindern überein, und gerade diese Übereinstimmungen und die Masse an unabhängigen Informationen erhöhen die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Berichte zutreffend sind. Denn hier berichten Menschen, die sonst nichts miteinander zu tun haben, unabhängig voneinander von denselben Erlebnissen.

Und warum sollte man auch etwas erzählen, was nicht passiert ist...

Das wäre schon ein Verstoß gegen die innere Moral. Natürlich gibt es auch Menschen, die sich so etwas ausdenken. Aber das tun die wenigsten. Der Mensch ist eigentlich so gestrickt, dass er das berichtet, was er erlebt hat. Wenn dann noch viele das Gleiche erzählen, dann muss da etwas dran sein. Zudem gibt es diejenigen, die selbst keine Opfer waren, aber trotzdem Dinge beobachtet haben. Das erhöht noch einmal die Glaubwürdigkeit der Geschichten.

Manche Verschickungskinder berichten davon, dass Erinnerungen erst im Zuge der jetzigen Medienberichte oder beim Fund von Postkarten wieder hochkamen. Kann das sein?

Das ist in jedem Fall möglich. Wir wissen, dass ein individuelles Trauma häufig lange ruht, bis es irgendwann aktuell wird. In vielen Fällen werden schlimme Erlebnisse erst verdrängt, was als Strategie des Körpers auch gar nicht so schlecht ist. Diese Erinnerungen kommen aber oft später wieder hoch. Und sie können sich auch in Form von körperlichen oder psychischen Beschwerden äußern.

Auf der einen Seite stehen die Verschickungskinder, die von schlimmen Erlebnissen berichten. Auf der anderen Seite betonen ehemalige Mitarbeiter, das könne alles gar nicht so gewesen sein. Wie soll ich das als Außenstehender einordnen?

Die Mitarbeiter haben erst einmal das Recht, sich selbst zu schützen. Andererseits gibt es aber auch genügend Leute, die zu den damaligen Erziehungsmethoden stehen, die in den 1950er und 60er Jahren Zeitgeist waren – körperliche Züchtigung zum Beispiel. Das sind dann zwar Erklärungen, warum manches nicht kindgerecht abgelaufen ist, nicht aber Entschuldigungen. Der entscheidende Punkt ist: Die Wahrheit liegt meist auf Seiten der Opfer.

Immer wieder kommt das Stichwort Heimweh. Wie schlimm kann Heimweh für ein Kind im Alter von fünf, sechs Jahren sein, das allein in eine fremde Umgebung geschickt wird?

Heimweh kann sehr schlimm sein. Das hängt von den Beziehungsstrukturen ab: Es gibt Kinder, die sind sehr mutig und selbstbewusst, die kommen mit solchen Fremdsituationen gut klar. Und dann gibt es Kinder, die sehr anhänglich und unselbstständig sind. Die haben es in Situationen, wo von ihnen andere Sachen verlangt werden als zuhause, schwerer. Wie ein Kind reagiert, hängt immer auch vom Verhalten der Eltern ab. Aus dem geschützten Umfeld herausgerissen zu werden, kann in jedem Fall traumatisierend sein.

Das erklärt den Vertrauensverlust in die Eltern, von denen manche berichten. Oder die ständige Angst, wieder verlassen zu werden.

Das ist ein Teil des Traumas. Im Prinzip haben die Kinder das Vertrauen in die Kompetenz ihrer Eltern verloren. Und dann gibt es noch Kinder, die schon von Haus aus wenig Vertrauen in ihre Eltern haben und grundsätzlich nicht vertrauen können, Beziehungsstörungen nennen wir das. Ihnen muss man mit viel Verständnis begegnen. Aber das ist gerade in den Heimstrukturen erst gar nicht vorgesehen gewesen.

Manche Verschickungskinder berichten zudem, dass sie von ihren Eltern nicht für voll genommen wurden, wenn sie vom Erlebten erzählten. Was macht das mit einem Kind?

Das verstärkt einerseits das Trauma, zum anderen sind die Kinder verunsichert. Es macht einen hilflos, wenn man niemanden hat, dem man seine Erlebnisse schildern kann, keinen Ort, wo einem geglaubt wird. Dieses Misstrauen kann sich durchs ganze Leben ziehen und sowohl auf Freundschaften als auch auf Partnerschaften auswirken. Aus solchen Erfahrungen können sich richtige Störungen entwickeln.

Zuhören wäre also der richtige Weg gewesen?

Das Wichtigste ist, dem Kind zu glauben und ihm Stärke zu geben. Man sollte zuhören, sich Zeit nehmen und das Erzählte auf Plausibilität hin prüfen. Bei Bedarf sollte gemeinsam mit dem Kind entsprechende Hilfe gesucht werden.

Die Verschickungskuren liegen 50, 60 Jahre, manchmal sogar noch länger zurück, trotzdem soll das Thema jetzt aufgearbeitet werden. Wie wichtig ist diese Aufarbeitung auch nach der langen Zeit aus psychologischer Sicht?

Aus der Forschung wissen wir, wie sehr traumatisierte Menschen davon profitieren, wenn ihr Trauma aufgearbeitet wird. Für einen Menschen ist es wichtig zu sehen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt – egal, wie lange ein Vorfall zurückliegt. Zu argumentieren, dass die Zeit alle Wunden heilt und schwerwiegende Verbrechen mehr oder weniger verjähren, das ist für die Betroffenen und auch für uns als Gesellschaft schwierig. Denn was unmenschlich ist, bleibt unmenschlich, auch, wenn es damals vielleicht erlaubt war – etwa körperliche Bestrafungen. Die Betroffenen wollen Gerechtigkeit.

Und dass ihnen geglaubt wird.

Genau. Die Opfer haben gerade am Anfang gegen große und mächtige Institutionen angekämpft – den Staat, die Träger, die Jugendhilfen. Die ganzen Maßnahmen waren aus damaliger Sicht ja alle im Sinne des Kindes.

Was kann ich als Außenstehender tun? Wie gehe ich mit Menschen aus meinem Umfeld um, die traumatische Erfahrungen in der Kinderkur gemacht haben?

Erstmal emotional auffangen und dann zur Seite stehen und Mut geben, an der Aufarbeitung mitzuwirken. Das macht nicht jeder, auch, weil die Konfrontation mit Erinnerungen aus der Vergangenheit nicht immer angenehm ist, und auch peinlich oder belastend sein kann. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein.

Kommen die Verschickungskinder überhaupt jemals über das Erlebte hinweg?

Viele sind bereits darüber hinweg, sie wollen jetzt Gerechtigkeit. Es ist wichtig für das Seelenleben der Betroffenen, dass das Ganze akzeptiert wird und Entschuldigungen kommen. Genau das soll im Zuge der Aufarbeitung passieren. Das stellt den Seelenfrieden bei den Betroffenen wieder ein bisschen her. Und ich sage extra: ein bisschen. Denn die Aufarbeitung macht das Geschehene ja nicht ungeschehen.

Persönlich

Dr. Ulrich Preuss ist Vater eines erwachsenen Sohnes. Geboren ist Preuss in Bielefeld, aufgewachsen in Köln. Dort hat er Medizin und Psychologie studiert und begann seine Tätigkeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als Assistenzarzt in Dortmund und Bonn. Später zog es ihn in die Schweiz und nach Brandenburg. Seit sieben Jahren ist er als Chefarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Lippe in Bad Salzuflen tätig.

Copyright © Lippische Landes-Zeitung 2025
Inhalte von lz.de sind urheberrechtlich geschützt.
Weiterverwendung nur mit Genehmigung der Chefredaktion.