Freiheiten und eine Ohrfeige: Vom Leben im Salzufler Kinderheim Grünau in den 70ern

Bad Salzuflen/Ehrsen-Breden. Als seine Mutter mit nur 28 Jahren stirbt, ist Uwe Kloß gerade mal sechs oder sieben Jahre alt, so genau weiß er es nicht mehr. Aber er weiß noch, wie sein Vater wieder heiratete. Wie die Stiefmutter völlig überfordert mit am Ende elf Kindern in der Patchworkfamilie war. Wie er das alles nicht mehr mitmachen wollte. Immer wieder weglief. Und schließlich im Kinderheim Grünau landete. Zum Glück, sagt er heute, fast 60 Jahre später. &bdquo;Es war für mich wie eine Erlösung.“ Von Dezember 1968 bis Juli 1974 hat er im Alter von 10 bis 16 Jahren in Ehrsen gelebt. Aber wie war das, damals in den 1970ern?

Ein Treffen in Ehrsen, draußen knallt die Sonne. Kloß, 66 Jahre, ledig, kurze Hose und Polo-Shirt, führt über das Gelände, zeigt wo sein Zimmer war, wo er als Kind gespielt hat. Er ist erst ein wenig zurückhaltend, aber dann kommt er gar nicht mehr raus aus dem Erzählen. Geboren ist er in Bünde, heute lebt er in Hiddenhausen, kommt regelmäßig nach Salzuflen, hält den Kontakt.

&bdquo;Wir konnten machen, was wir wollten“ Sein Vater habe früher nur malocht, die Stiefmutter die Geschwister gegeneinander ausgespielt, Gewalt habe eine Rolle gespielt. Weil er nach der Schule auf Wanderschaft geht und immer wieder von der Polizei aufgegriffen wird, schaltet sich irgendwann das Jugendamt ein – und er muss ins Heim.

58 Kinder sind damals in Grünau untergebracht, erinnert er sich. Er bewohnt die &bdquo;Biber“-Gruppe mit etwa 16 Jungs. An einen Schlafsaal mit zehn Betten kann er sich erinnern, an Grießbrei und Schokoladensuppe zum Frühstück. An Fahrten nach Holland in den Ferien, an Krippenspiele für die Engländer, die Geschenke mitbrachten. An einen Schötmaraner Fahrradhändler, der ihm ein Rad geschenkt habe – einfach so. Und an unendlich viele Freiheiten. &bdquo;Die Erzieher haben kaum was mit uns gemacht – wir konnten machen, was wir wollten“, erzählt Uwe Kloß und grinst.

Da sei schon mal unerlaubterweise mit Mädchen abgehangen, geraucht oder eine Hamsterzucht aufgezogen worden. &bdquo;Aus Versehen – ich hatte auch einen Käfig“, erinnert sich Kloß. Und im Wald sei man gewesen, habe Forellen gefangen und an einer selbst gebauten Feuerstelle gebraten. &bdquo;Und dazu Pfanne, Margarine, Salz und Pfeffer aus der Küche stibitzt“, erzählt er und lacht. Gebolzt worden sei viel, einer seiner Gruppenkollegen sei ein richtiger Fußballnarr gewesen. &bdquo;Der hat uns immer unter Druck gesetzt, was passiert, wenn wir nicht mitspielen.“

Backpfeife für eine Lüge Ansonsten könne er sich an Gewalt oder ähnliches aber nicht erinnern. Nur ein Erzieher habe damals die Kinder noch richtig verprügelt – bei einem Kameraden habe er das beobachtet. Und einmal, da habe er sich selbst eine Ohrfeige vom Heimleiter eingehandelt. &bdquo;Weil wir den Pastorenunterricht geschwänzt und gelogen hatten“, erzählt Kloß. &bdquo;Die Backpfeife war berechtigt.“

Damals sei der Betreuungsschlüssel deutlich kleiner gewesen als heute, einige Betreuer seien auch gar keine ausgebildeten Erzieher gewesen. Aber es gab sie, die guten Seelen. Einer habe mit ihm eine Fernsteuerung für sein Segelflugzeug gebaut, ein anderer ihm Boxen beibringen wollen. &bdquo;Und zur Schneiderin, Frau Weber, konnten wir immer gehen, wenn wir was auf dem Herzen hatten. Sie hat uns zugehört und getröstet.“

Nach dem Besuch der Grundschule in Schötmar ging es für ihn auf die frühere Hauptschule an der Otto-Hahn-Straße. Mit 16 Jahren hat er schließlich das Alter erreicht, um das Heim verlassen zu müssen. Er soll zurück zu seiner Familie. &bdquo;Aber ich wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Ich wollte bleiben.“

Der Heimleiter habe ihn persönlich gefahren, Kloß erinnert sich genau. &bdquo;Ich habe kein Wort mit ihm gesprochen.“ Zuhause ist die Situation derweil unverändert. &bdquo;Ein Tohuwabohu. Meine Geschwister mussten viel mitmachen.“ Oft hätten Nachbarn das Jugendamt gerufen. Eineinhalb Jahre hält es Kloß zuhause aus, dann zieht er zu seiner Oma, beendet seine Ausbildung zum Werkzeugmacher. Nach dem Zivildienst in Isarlohn fängt er in der Möbelindustrie an. Bis zum Ruhestand Anfang dieses Jahres bleibt er dort tätig.

Spenden für die Jugendhilfe Die Zeit in Grünau hat ihn bis heute geprägt, sagt er. Er erinnere sich durchweg positiv daran. &bdquo;Ich habe Gemeinschaftsleben gelernt, mit anderen auszukommen.“ Nur auf die Ernährung hätte man etwas mehr Wert legen können, sagt er und fasst sich grinsend an den Bauch. Und den Umgang mit Geld, den musste er sich auch erst beibringen.

Lange Zeit hat er keinen Kontakt nach Grünau, doch dann, vor ein paar Jahren, kommen die Erinnerungen. Seitdem fährt er regelmäßig zum Weihnachtsbasar – hat er doch als Kind 1972 für den ersten seiner Art sogar mitgebastelt, erzählt er und zeigt alte Zeitungsausschnitte von damals. Zum 175-jährigen Bestehen von Grünau hat er zudem Anfang des Jahres Klinken geputzt und 1300 Euro Spenden eingeworben. Dass es die Einrichtung gibt, sei so wichtig. &bdquo;Man kann die Bedeutung gar nicht hoch genug einordnen.“

Er selbst hat heute noch Kontakt zu zwei Ehemaligen, die mit ihm in Grünau gelebt haben, innerhalb der Familie hält er Kontakt zu zwei seiner Schwestern. Dass er nie auf die schiefe Bahn geraten sei, das habe er auch Grünau zu verdanken,da ist er sich sicher. &bdquo;Die sechs Jahre haben mir gut getan“, sagt er. &bdquo;Es war die beste Zeit meines Lebens.“

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