Mathe statt Moria: Mustafa Brauns langer Weg ins deutsche Klassenzimmer

Kreis Lippe/Bad Salzuflen . Als das Flüchtlingsboot, mit dem Mustafa Braun vom türkischen Izmir auf die griechische Insel Lesbos gebracht werden soll, regelrecht in zwei Teile bricht, sind seine Träume mit einem Mal so weit weg. Drei bis vier lange Stunden treibt Braun mit vielen anderen Geflüchteten im Mittelmeer, bis die Küstenwache ihn und die anderen einsammelt und zurück in die Türkei bringt.

Ein Erlebnis, das genügt, um ein westliches Leben, verwöhnt von Wohlstand und Sicherheit, komplett aus der Bahn zu werfen. Doch angesichts dessen, was Braun (39) seit der Flucht aus Syrien in Beirut, Athen, aber auch Hohenhausen erlebt hat, ist ein Überlebenskampf in der Ägäis nur eine Fußnote. Eine Fußnote in einem jahrelangen Kampf für den Traum. Den Traum, Lehrer im Westen zu werden.

Bürgerkrieg lässt Träume platzen Heute ist Mustafa Braun, der den Nachnamen seiner deutschen Frau trägt, unbefristet angestellter Lehrer an der Gesamtschule in Werl-Aspe. Für seine Verbeamtung kämpft er noch, doch die meisten Hürden hat er genommen. Als Türöffner und als Schlüsselmoment beschreibt er seine Teilnahme am Programm &bdquo;Lehrkräfte Plus“ der Uni Bielefeld. &bdquo;Ohne diese Chance wäre ich nie wieder Lehrer geworden“, ist sich der studierte Pädagoge sicher.

Letzteres ist dabei entscheidend, wie Julia Bömer, Pressesprecherin der Uni Bielefeld, sagt: &bdquo;Lehrkräfte Plus“ ist eine einjährige Qualifizierung für Lehrer aus dem Ausland, ob geflüchtet oder nicht. Sie müssen ein abgeschlossenes Studium mitbringen, das alleine aber nicht reicht, um in Deutschland zu unterrichten. Mustafa Braun beispielsweise hatte in Aleppo Mathematik studiert und bereits an einem Gymnasium unterrichtet. Eigentlich wollte er noch seinen Master machen, um Dozent an der Universität zu werden. Im März 2011 kommt der blutige Bürgerkrieg dazwischen.

Wie so vielen syrischen Männern droht auch Mustafa Braun die Zwangsrekrutierung in der Armee. Zwei Freunden des jungen Mathelehrers ist das bereits passiert, als Braun sich für die Flucht entscheidet. &bdquo;In Libanon war ich dann schockiert. Alle sprachen Französisch“, erinnert sich der Syrer. &bdquo;Mit meinen Englisch-Kenntnissen hatte ich keine Chance.“ Wieder als Lehrer zu arbeiten? Undenkbar. Braun hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

Hoffnung machen ihm aber Berichte, nach denen Schweden gebildeten Syrern die Chance gibt, dort Lehrer zu werden. Mehr als 3000 Kilometer nach Nordwesten. Für den legalen Weg mit vielen Anträgen, Beglaubigungen und Übersetzungen fehlt Mustafa Braun allerdings das Geld. &bdquo;Die 10.000 Euro hatte ich einfach nicht“, sagt er. Also der illegale Weg, über die Türkei nach Griechenland und irgendwie weiter nach Norden. Alleine, ohne Ersparnisse.

Ohne Visum in die Türkei zu fliegen, ist damals noch kein Problem. So landet der heute 39-Jährige in Izmir, wie so viele, die die griechischen Inseln wie Lesbos bei gutem Wetter vor der türkischen Küste sehen. Sechs Kilometer bis nach Europa.

200 Euro pro Überfahrt Für die sechs Kilometer braucht Mustafa Braun exakt sechs Versuche. Natürlich mit Schleusern, die die Not der Menschen zum Geschäftsmodell machen. 200 Euro knüpfen sie seinerzeit je Überfahrtsversuch ab, heute das Zehnfache.

Ein Mal hat das Boot, in dem Braun sitzt, einen Motorschaden, ein anderes Mal kommt der &bdquo;Pushback“, Grenzer drängen das Schiff zurück. Dann der Totalschaden – das Boot zerbricht und nur die verzweifelten Anrufe der Menschen, die sich an den hinteren, schwimmenden Teil klammern, rufen die rettende Küstenwache herbei. Ein makabres Spiel, sagt Braun: &bdquo;Jeder weiß, die Überfahrt ist lebensgefährlich. Aber jeder weiß, die Menschen probieren es trotzdem immer wieder.“

Mustafa Braun hat beim sechsten Versuch Erfolg. Erfolg in Anführungsstrichen. Nun sitzt er mittellos auf Lesbos und träumt weiter von Schweden. Für einen Syrer, der sich auf der durch das Flüchtlingslager Moria traurige Berühmtheit erlangten Insel eine klitzekleine Existenz aufgebaut hat, verkauft Braun Tücher. Das Geld, das er spart, investiert er in Flugtickets. Doch die gefälschten Pässe fallen beim Check-in durch. &bdquo;Die Flughafenmitarbeiter haben Mitleid. Sie nehmen einem den Pass weg, wünschen einem aber Glück fürs nächste Mal“, sagt Braun.

Inzwischen ist er von den Behörden aufs Festland gebracht worden und sitzt in Athen. Er hört: Deutschland ist noch schöner als Schweden, die Sprache einfacher, das Wetter freundlicher, die Unis besser. So begibt sich Mustafa Braun &bdquo;zusammen mit einem mutigen jungen Mann, der zu seinem Bruder nach England wollte“, wie er sagt, auf die berühmt-berüchtigte Balkanroute. Ein Flickenteppich aus Ländern, aber auch aus Hindernissen.

So viele Grenzen, über die man muss ... Beamte, die sich bestechen lassen – oder nicht. Mustafa Braun schafft es nach Ungarn und weiter nach Österreich. Dann die Einreise nach Deutschland: ein Klacks gegenüber allem, was vorher war. &bdquo;Wir sind einfach in einem Bulli neben dem Fahrer auf der Vorderbank hinübergefahren.“

In Trier stellt der heute 39-Jährige seinen Asylantrag. Er bekommt Essen und einen Schlafplatz. &bdquo;In einer Halle mit fremden Menschen, viele haben darüber geklagt und geschimpft. Für mich war das nur endlich wieder ein eigenes Bett“, erinnert er sich. Braun kommt nach Dortmund und weiter ins Kalletal. Irgendwo bei Hohenhausen. Felder, Wiesen, Bäume ... ein Kulturschock für den jungen Mann aus der Metropole Aleppo.

Deutsch lernen auf eigene Faust Entmutigen lässt sich der aber nicht. Seine erste Frage beim Sozialamt: Wann kann ich mit dem Sprachkurs anfangen? Die Mitarbeiterin, aber auch seine Mitbewohner, dämpfen die Hoffnung – nicht mehr als Essen, Trinken, Schlafen ... ein Jahr lang: Darauf soll sich der Syrer einstellen. &bdquo;Da würde ich krank werden“, betont er.

Also kauft er sich von seinem Taschengeld ein Busticket nach Lemgo, fährt in die Stadt und büffelt vor einem Computer auf eigene Faust Deutsch. &bdquo;Ohne Lehrer. Jeden Tag. Buchstabe für Buchstabe“, erinnert sich der Bad Salzufler. &bdquo;Sprache ist die erste Tür, danach öffnen sich viele Türen“, ist er überzeugt.

Nach vier Monaten wird Brauns Asylantrag genehmigt, er kann sich eine Wohnung suchen und arbeiten. Um ihn herum wollen alle in die großen Städte ... nach Köln, nach Berlin. Der 39-Jährige will in Hohenhausen bleiben. &bdquo;Um mich weiter aufs Lernen zu konzentrieren“, sagt er.

Der Syrer macht einen Sprachkurs nach dem nächsten, finanziert per Minijob – ebenso wie sein Führerschein. A1, A2, B1, B2, ein Sprachlevel nach dem anderen. Das Ziel: C1 ... denn damit darf man studieren. Braun will den Master nachholen, was ihm in Syrien aufgrund des Bürgerkrieges verwehrt blieb.

Durch Zufall stolpert der gelernte Lehrer im Fernsehen über einen Beitrag über &bdquo;Lehrkräfte Plus“. Das Programm hat gerade zum ersten Mal begonnen. Braun: &bdquo;Ich bin aufgesprungen und habe gerufen: Das ist für mich gemacht.“ Tatsächlich ruft der Syrer direkt am nächsten Tag an der Uni Bielefeld an, lässt sich auf die Liste fürs nächste Jahr setzen. Der harte Auswahlprozess: 400 Bewerber, nur 25 Plätze. Drei Tage Sprach-, Pädagogik- und Eignungstests ... Mustafa Braun bekommt den Zuschlag. Das ist im September 2018.

Nach einem Jahr weiteren Büffelns und Hospitierens hat es der Bad Salzufler geschafft: Er darf nun offiziell unterrichten. Vertretungsstellen zwar, aber wieder Lehrer sein. Zunächst an der Realschule in Lemgo, dann nach dem Wechsel weiter an der Gesamtschule Aspe. Hier unterrichtet Mustafa Braun heute noch Mathe, Physik und Naturwissenschaften, mittlerweile auf fester Stelle. Auch das ist keinesfalls selbstverständlich.

Nächstes Ziel: die Verbeamtung Denn sich von befristeter Vertretungsstelle zu Vertretungsstelle zu hangeln, will Braun auf Dauer nicht. Also schreibt er sich noch nebenher zur sogenannten pädagogischen Einführung am Lehrerseminar in Detmold ein. Wer das durchhält, bekommt nach zwei Jahren automatisch einen unbefristeten Vertrag. Den hat der 39-Jährige inzwischen in der Tasche. Ist er am Ziel? Fast ... Nun kämpft Braun für die Verbeamtung.

Doch dafür müssen Lehrer zwei Fächer auf Lehramt absolviert haben. &bdquo;Im Ausland studiert man aber meistens nur ein Fach“, erklärt Braun, der sich in Physik mittlerweile fast ebenso sicher fühlt wie in seinem Studienfach Mathe. Und Physiklehrer werden gesucht.

Aktuell wartet der Salzufler noch auf eine Antwort vom Schulministerium, ob er sich offiziell Physiklehrer nennen darf. Wer Brauns Beharrlichkeit im Hürdenlauf des Lebens kennt, wäre nicht überrascht, wenn er auch dieses Hindernis nimmt. Apropos Hürdenlauf: Abstoßen, Springen, Landen ... Energie gegen Schwerkraft, die Newton’schen Gesetze – wie gemacht für einen Physiker.

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