Detmolder verliert auf der Flucht übers Frische Haff seine alte „Oma Anna“

Detmold. Ein Lehrer, der zum Lokomotivführer und Lebensretter wird. Der mühsame Weg übers zugefrorene Frische Haff. Eine auf der Flucht verlorene Oma. Viele Tote, Gewalt und Hunger. Wenn Dieter Mey über seine Flucht aus Allenstein in Ostpreußen berichtet, klingt es dramatisch. Vor drei Jahren, als der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann, kamen die Erinnerungen wieder. Der Detmolder begann, seine Geschichte aufzuschreiben.

Henkersmahlzeit Frikassee Der damals Elfjährige flüchtete mit seiner Mutter, der sechs Jahre älteren Schwester Erika und der alten Tante - die Schwiegermutter seines Onkels – quasi in letzter Minute aus Allenstein. Nachdem sie bereits einmal vergeblich zum Bahnhof gelaufen sind - alle Züge sind überfüllt und fahren durch - geht es am 22. Januar 1945 endlich los: &bdquo;Die Schwiegermutter meines Onkels, wir nannten sie Oma Anna, hat noch ein Huhn geschlachtet und uns ein Frikassee daraus gekocht. Das war unsere letzte Mahlzeit in Allenstein.“

Um ein Haar vereiteln die Russen die Abfahrt des Zuges, der mit 100 Güterwagen und zwei Loks zusammengestellt, worden ist. &bdquo;Eine Granate hatte eine Lok getroffen. Der Lokführer hat sich geweigert, den Zug zu fahren.“ Ein Lehrer lässt sich zeigen, wie er den Zug lenken kann - und fährt im Schneckentempo los.

Die Viehwaggons sind mit Stroh ausgelegt, es herrschen minus 21 Grad. Wenn der Zug hält, lassen Männer, Frauen und Kinder die Hosen runter, um sich zu entleeren. Daran kann sich Dieter Mey noch genau erinnern. Und daran, dass die Milchfläschchen für die Säuglinge an einer Kerze notdürftig gewärmt werden. Doch die Passagiere haben auch mal Glück: &bdquo;Einmal war auf einem anderen Gleis ein Küchenwagen von einem Kanonenzug. Dort fragten wir nach Essen und bekamen Erbsensuppe.“ Sie wird stark mit Wasser verdünnt, dennoch kommt sie den Flüchtlingen vor wie ein Festmahl.

Frostbeulen an den Füßen Die Reise endet nach zwei Tagen irgendwo im Nirgendwo. &bdquo;Wir wurden zu einem großen Gutshof gebracht, die Einwohner waren längst geflüchtet“, erinnert sich der 90-Jährige. Als er Schuhe und Strümpfe auszieht, bemerkt er die Frostbeulen an seinen Füßen. Nach ein paar Tagen muss es weiter gehen, Soldaten kommen und drängen zum Aufbruch, die Rote Armee rückt näher.

&bdquo;Meine Schulsachen wurden aus meinem Ranzen genommen, jetzt kam dort Essen rein“, weiß Dieter Mey noch. Damit die Flüchtlinge nicht zur leichten Zielscheibe werden, geht es bei Dunkelheit über das zugefrorene Frische Haff. &bdquo;Alte Leute kamen auf Bauernwagen, die jungen liefen nebenher.“ Auch Tante Anna fährt auf einem Wagen mit. Doch die Familie wird auseinandergerissen, denn die Fußgänger mit ihren Schlitten sind viel schneller.

&bdquo;Ich höre noch heute das Knarren und Stöhnen der vollgeladenen Bauernwagen, das Stampfen der Pferdehufe und das Knacken der dicken Eisdecke.“ Am Ufer angekommen, warten Dieter Mey, seine Mutter und Schwester vergeblich: &bdquo;Oma Anna haben wir nie wieder gesehen. Vielleicht ist ihr Wagen durchs Eis gebrochen, wir wissen es nicht.“

Ein mit Benzinfässern beladener Lastwagen nimmt die Flüchtlinge ein Stück mit auf der Nehrung Richtung Westen: &bdquo;Unterwegs drehte eine Frau völlig durch und schrie fürchterlich – sie wurde einfach abgesetzt, dann ging es weiter.“ Ein Menschenleben sei nichts wert gewesen. Er erinnert sich auch an eine Übernachtung in auf einem mit hohem Stacheldrahtzaun gesicherten Gelände: &bdquo;Dort gab es Baracken, die mit frischem Stroh ausgelegt waren.“ Später erfuhr er, dass es sich um das Konzentrationslager Stutthof handelte, das längst geräumt worden war.

Danzig war überfüllt Weiter geht es mit einem Lastkahn auf der Nogat, einem Mündungsarm der Weichsel, nach Danzig. Noch ist die Stadt nicht zerbombt, man habe noch alles kaufen können, sogar ohne Lebensmittelkarten; die Stadt ist überfüllt mit Flüchtlingen. Die Entscheidung seiner Mutter, niemals mit dem Schiff weiter zu flüchten, weil sie Angst vor dem Wasser gehabt habe, habe der Familie womöglich das Leben gerettet: &bdquo;Denn Tage später erfuhren wir vom Untergang der Wilhelm Gustloff mit vielen Toten.“

Geprägt ist Dieter Meys Fluchtgeschichte auch von Zufällen und Glück. So habe seine Mutter einen Vetter aus Gumbinnen auf der Straße getroffen, der als Hauptmann zuständig für den Nachschub bei der Wehrmacht ist. Der verhilft den drei Flüchtlingen zu einer Zugfahrt &bdquo;mit den besten Waggons der Reichsbahn“ bis Berlin. Die Hauptstadt liegt in Ruinen, in Grunewald gibt’s Fliegeralarm - alle müssen sich hinter den Bäumen verstecken - dann gibt es einen lauten Knall, ein Gleisabschnitt in der Nähe ist getroffen worden.

Nach sechs Wochen Flucht trifft die Familie in Stepfershausen bei Meiningen in Thüringen ein - an die Adresse, die die Mutter von Verwandten erhalten hatte, hatte sie schon Monate vorher eine Kiste mit Hausrat geschickt. Auf einem Bauernhof treffen sie ihre Verwandten wieder und erhalten zwei Zimmer, mit drei Betten, Kleiderschrank, Tisch und Stühlen. Und auch die Kiste ist angekommen, unter anderem mit Bettzeug darin: &bdquo;Wir konnten zum ersten Mal wieder entspannt schlafen, und am nächsten Tag begann ein neues Kapitel.“

Der Ort in Thüringen wird für Dieter Mey zur Heimat - auch wenn er hier nur bis 1951 bleibt. &bdquo;Ab 1974 bin ich jedes Jahr dort gewesen - bis 2019. In Allenstein war ich nur einmal, 1985. Da war ich total enttäuscht“, berichtet er, dass er den einst schönen Ort nicht wiedererkannt habe.

Schwarz über die Grenze Er beendet die Schule in der inzwischen russischen Zone. Er feiert im März 1948 seine Konfirmation. Und er beginnt im Jahr darauf eine Tischlerlehre: &bdquo;Mein Vater war inzwischen aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, er hatte es aber schwer, als Maler und Grafiker hier Geld zu verdienen.“ Also entscheidet er sich, 1950 schwarz über die Grenze nach Brackwede im britischen Sektor zu gehen. Die Familie folgt ein Jahr später - wieder mit Sack und Pack, zu Fuß und bei Nacht illegal über die Grenze.

1975 zieht er nach Detmold, arbeitet bis zur Rente als Museumstechniker im Landesmuseum - und dort hilft er, obwohl er seit fast 30 Jahren Rentner ist, immer noch aus, wenn Not am Mann ist.

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