Lemgoer muss die Vergewaltigung seiner Mutter mitansehen

Lemgo. Als sein Vater vor St. Petersburg fiel, war Georg Kramp erst dreieinhalb Jahre alt. Der Bürgermeister der Stadt Lippehne in Westpommern, in der die Familie lebte, kam mit dem Fahrrad, um die Todesnachricht zu überbringen. Es war der 3. Oktober 1942. &bdquo;Der Bürgermeister öffnete die braune Lederaktentasche mit dem goldenen Verschluss. Ich erinnere mich heute noch an das Klicken“, schildert Georg Kramp (86). Dann übergab er Georgs Mutter Erika den Brief mit der Nachricht aus dem Lazarett, in dem ihr Ehemann Paul nach einem Kopfschuss verstorben war.

Vater verloren, Großeltern gewonnen Georg wird am 10. März 1939 in Lippehne, Landkreis Soldin, geboren. Der frühe Tod des Vaters ändert für ihn und seine Mutter Erika alles. Bald ziehen die Großeltern mütterlicherseits, Emma und Richard Schulz, von Karwen im Kreis Stolpe, etwa 300 Kilometer nordöstlich von Lippehne, auf den Hof der Tochter und des kleinen Sohns, um zu unterstützen: &bdquo;Das war für mich eine aufregende Zeit. Ich hatte meinen Vater verloren, aber nun waren die Großeltern da“, erzählt Georg Kramp in dem Buch &bdquo;Ein Leben lang Flüchtling?! Befreiung für Kriegskinder und ihre Familien“. Auch Erikas Eltern haben schwere Schicksalsschläge hinter sich - sechs ihrer sieben Kinder haben sie verloren, Erika ist als einzige übrig geblieben.

Während 1944 die Front näher rückt und die Ersten bereits fliehen, entscheidet sich Georgs Oma Emma, noch einmal gen Osten zurückzukehren und ihrer Freundin zu helfen. Die ist in Karwen schwer an einer Lungenentzündung erkrankt. Von dort setzt sie ihr Erspartes ein, um den Hof ihrer Tochter abzubezahlen. Doch die Familie hat nicht lange Freude am Eigentum. Und Oma Emma kehrt auch nie mehr nach Lippehne zurück. Dass auch ihr die Flucht auf eigene Faust rechtzeitig gelingen wird, erfährt ihre Familie erst Jahre später.

Die Rote Armee erobert Lippehne am 30. Januar 1945. &bdquo;Unser Haus war gerade abbezahlt. Da saßen wir in der Küche und hörten, dass die russischen Soldaten Swinemünde eingekesselt und eingenommen hatten“, berichtet Georg Kramp. Drei Tage später hätten die russischen Panzer ihren Ort erreicht. Und kurz darauf entziehen die Soldaten der Familie die Lebensgrundlage: &bdquo;Sie haben all unsere sechs Schweine erschossen.“ Auch die Kuh, die Gänse und Enten hätten die Russen getötet und den Gemüsegarten geplündert.

Rettung gelingt nur einmal Georgs Mutter hat zunächst Glück: Weil ihr Vater, Opa Richard, als &bdquo;Mann für alle Fälle“ im Rathaus arbeiten muss, kann er verhindern, dass seine Tochter in ein Arbeitslager nach Sibirien verschleppt wird. Doch vor allem schützen kann er sie nicht. Als Richard eines Tages noch bei der Arbeit ist, kommen zwei russische Soldaten und vergewaltigen seine Tochter - der kleine Georg beschreibt, wie er, ein Karabinergewehr auf ihn gerichtet, die Gräueltaten mit ansehen muss. Eine schambehaftete Leidensgeschichte, über die Erika Kramp erst in den 90ern anlässlich einer Familienfeier berichtet.

Im Mai 1945 wird Lippehne in Lipiany umbenannt. Es steht nun unter der Verwaltung Polens. Ausgerechnet an ihrem 26. Geburtstag, dem 27. September 1945, wird Erika Kramp mit ihrem Sohn und ihrem Vater aus ihrem Haus vertrieben, das die Oma ja erst im Januar abbezahlt hatte: &bdquo;Vier russische Soldaten forderten uns auf, das Haus zu verlassen und drohten, uns sonst zu erschießen. Wir hatten zwei Stunden Zeit.“ Einziehen darf eine polnische Familie, die, wie die Kramps erst viel später erfahren, ihre Heimat im Osten Polens ebenfalls verlassen musste und in den Westen umgesiedelt wurde.

In aller Eile werden ein paar Habseligkeiten zusammengepackt - die Mutter versteckt Briefe und Papiere auf dem Dachboden - darunter Karten und Briefe des Vaters von der Front, die Georg Kramp erst 2009 zurückbekommt. Die ehemaligen Bürger von Lippehne werden im Frühjahr 1946 mit dem Zug in die britische Zone, nach Großhansdorf (Schleswig-Holstein), transportiert und in provisorischen Unterkünften untergebracht.

Ein Jahr allein im Sanatorium Hier wird Georg Kramp drei Monate später in die Volksschule eingeschult - aber kurz darauf erkrankt er an einer schweren Lungenentzündung. Der Siebenjährige muss fast ein Jahr lang getrennt von Mutter und Opa in einer Lungenklinik in Bad Oldesloe verbringen.

Als der inzwischen Achtjährige schließlich gesund die Klinik verlassen darf, glaubt er an ein Wunder. Und kurz darauf geschieht ein zweites: &bdquo;Im Winter 1947, eineinhalb Jahre nach ihrem Verschwinden, erfuhren wir über die Schwester meines Opas aus Berlin, dass meine Oma lebt und in Lemgo-Lieme Zuflucht gefunden hat.“

Emma Schulz war mit dem Treck der Gutsherrenfamilie aus Karwen nach Lieme aufgebrochen und wohlbehalten in Lippe angekommen. Hier lebte und arbeitete sie als Haushälterin. &bdquo;Und wir dachten die ganze Zeit, Oma sei bei einem Bombenangriff der Roten Armee auf die Eisenbahn getötet worden.“ Es folgen regelmäßige Besuche, erst im Oktober 1949 ziehen der Opa, die Mutter und Georg ebenfalls nach Lieme. &bdquo;Ich hatte mit zehn Jahren bereits meine dritte Heimat kennengelernt, aber fühlte mich heimatlos.“

Mit 15 beendet Georg die Schule und macht eine Maurerlehre, angetrieben von dem Wunsch, seiner Mutter und der Oma ein neues Haus zu bauen, so wie sie es in Lippehne verloren hatten. Das sei seine Art gewesen, sich zu bedanken. Und er schafft noch viel mehr: Wird Maurermeister, gründet ein eigenes Bauunternehmen, heiratet, bekommt fünf Kinder. Nach Lippehne kommt er 1991 das erste Mal zurück und begibt sich auf Spurensuche. Seither ist er mehrfach dort gewesen.

Das Buch Das Buch &bdquo;Ein Leben lang Flüchtling?! Befreiung für Kriegskinder und ihre Familien“, das Georg Kramp mit seiner Tochter Manuela geschrieben hat, erzählt nicht nur die Geschichte von der Kindheit bis zur Vertreibung und dem neuen Leben in Lieme. Es berichtet auch von der Rückkehr in die alte Heimat und nimmt sich der Thematik der Kriegskinder, Kriegsenkel und -urenkel an. Erschienen im Biografie-Verlag, ISBN 9783937772479, 14,90 Euro.

Lemgoer muss die Vergewaltigung seiner Mutter mitansehen

Ostern 1946: Detmolderin empfängt Vertriebene mit Teller voll Kuchen

Das Wunder von Liegnitz: Detmolder berichtet über Flucht mit einwöchigem Säugling

Inhaftiert in Bautzen oder Hoheneck: Warum dieser Alptraum eine Salzuflerin verfolgt

Blomberger flüchtet auf dem Frachter, der Opfer der „Wilhelm Gustloff“ rettet

Vertreibung aus Schlesien: Erich Woitelle aus Lage erlebt Gewalt und Todesangst

Lemgoer wird mit seiner Familie bei Bombenangriffen auf Danzig verschüttet

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Weiterlesen mit LZplus!

0,99 Euro im ersten Monat

Weiterlesen mit LZplus