Ostern 1946: Detmolderin empfängt Vertriebene mit Teller voll Kuchen

Detmold. Flucht, Rückkehr, Vertreibung. Plünderungen, Vergewaltigungen, Hunger. Doch am Ende unerwarteter Wohlstand. Wenn Klaus Herzog (91) von seinem Leben berichtet, erzählt er davon, wie es mit seiner Familie bergab und bergauf ging. Von vielen tragischen Ereignissen, aber auch glücklichen Wendungen. Und von einem echten Wunder.

Ankunft mit nichts Klaus Herzog ist gerade in die Hiddeser Seniorenresidenz &bdquo;Augustinum“ eingezogen, nachdem er seine Eigentumswohnung am Ort verkauft hat. Wer hier seinen Lebensabend verbringt, kann es sich leisten. Fast genau vor 79 Jahren, am Ostermontag 1946, kam Klaus als Teenager mit seiner Familie in Detmold an. Damals konnten sich die Herzogs nichts leisten. Alles, was die &bdquo;Flüchtlinge“ noch besaßen, befand sich in den Koffern und Rucksäcken, die sie mit sich trugen. Ein paar Kleidungsstücke, Papiere und Fotos habe seine Mutter eingepackt, hastig herausgerissen aus einem Fotoalbum, bevor sie den Hof in Langenöls verlassen müssen: &bdquo;Ich weiß noch, wie ich zu ihr gesagt habe: Wie kannst Du jetzt an Bilder denken, wo es doch ums Überleben geht!“ Später ist er dankbar für diese besonderen Erinnerungsstücke.

Klaus Herzog wird 1933 in Breslau geboren, er ist der älteste von vier Geschwistern. Als es in der Stadt aufgrund der Bombenangriffe zu gefährlich wird, zieht seine Mutter mit den drei Geschwistern Helga (damals 7), Dieter (3) und Hubert (2) auf den 42 Kilometer entfernten elterlichen Hof nach Langenöls. Klaus ist schon zwölf, er bleibt in der Stadt, er muss zur Schule: &bdquo;Ich war Hitlerjunge und habe mir damals absolut nicht vorstellen können, dass die Russen jemals deutschen Boden betreten würden. Wir hatten doch unseren Führer, und der würde das schon verhindern.“

In der Stadt herrscht Chaos Und so fährt er auch völlig ahnungslos zu Weihnachten 1944 zu seiner Familie aufs Land und verbringt dort sorglose Tage. &bdquo;Nachts konnten wir die Bombenangriffe auf Breslau sehen, der Himmel war rot!“ Dennoch kehrt er mit seiner älteren Cousine Gerda nach den Weihnachtsferien zurück - und wird vom Chaos überrascht: &bdquo;Auf dem Bahnhof kamen uns schon Menschenmassen entgegen, die aus der Stadt raus wollten.“

Die Großeltern, bei denen Klaus in der Elbingstraße gewohnt hatte, sind weg - sie haben das Wichtigste auf den Handwagen geladen und sind zu Fuß geflüchtet. Gerdas Wohnung liegt in Schutt und Asche. Die junge Frau erkennt die Lage: Breslau ist zur Festung erklärt worden, alle Zivilisten müssen raus. Die beiden kehren um - auf einen überfüllten Bahnsteig, in einen überfüllten Zug nach Langenöls zurück, wo die Mutter, die drei Geschwister, Gerdas Mutter Martha und die Großeltern schon beisammen sind.

Ein paar Wochen später ist klar: Die Herzogs müssen vor der näher rückenden Front fliehen. Auf einen vom Großvater gebauten Leiterwagen werden die Habseligkeiten verladen. Kuh und Ochse werden vor den Wagen gespannt - Oma, Opa, die Mutter mit ihren vier Kindern, Tante Martha und Gerda machen sich auf die Reise bis nach Neurode, wo die Flüchtlinge in einem Saal zusammengepfercht Unterschlupf finden. Klaus Herzog erinnert sich: &bdquo;Wir haben auf der Bühne unsere Decke ausgebreitet und dort gelegen - das war ein Tiefpunkt, aber dann erschien die Rettung in Gestalt einer Freundin meiner Mutter.“

Kuhhirte und Köchin sorgen für die Familie Sie sei mit ihren beiden Kindern schon früher von Breslau nach Konradswalde im Glatzer Kessel geflüchtet und nimmt nun Elfriede Herzog und die vier Kinder bei sich auf. Von der roten Armee werden sie dort nicht überrannt, &bdquo;die hatten gar kein Interesse an diesem Zipfel, die wollten nur nach Berlin“. Im April kommen die Russen schließlich doch nach Konradswalde. &bdquo;Tante Friedel“, wie Klaus Herzog die Freundin der Mutter nennt, arbeitet bei der russischen Kommandantur in der Küche, er selbst wird Kuhhirte - fortan gibt es genug zu essen für alle.

Das ändert sich, als die Herzogs im Juni 1945 auf ihren Hof in Langenöls zurückkehren: Klaus als Ältester muss mit seinem 65-jährigen Opa nun 32 Morgen Land bewirtschaften, obwohl beide keine Ahnung von Landwirtschaft haben: &bdquo;Zu essen gab es jeden Tag Kartoffeln, davon hatten wir reichlich, rotes Viehsalz und Sirup - und zwar zu allen drei Mahlzeiten.“ Was für eine Mischung! Zwei Monate später sei eine Polin mit ihren drei Töchtern eingezogen - Menschen, die von den Russen aus Galizien nach Schlesien umgesiedelt worden seien und nun Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küchenmitbenutzung zugeteilt bekamen.

Zu der Mangelernährung kam die Angst: &bdquo;Nachts bekamen wir Besuch - waren es Polen, wurden wir ausgeplündert, waren es Russen, wurden die Frauen vergewaltigt.“ Von der Welt hätten sie nichts gewusst, denn es habe weder Zeitung noch Radio gegeben - nur Gerüchte.

Es geht gen Westen Als die Herzogs, glücklicherweise als ganze Familie, im April 1946 ihr Dorf verlassen müssen, fürchten sie zunächst, es gehe nach Sibirien. Doch schon bald erkennt Klaus durch einen Schlitz im verbretterten Güterwagen, dass die Zugfahrt gen Westen führt. Und als sie in der britischen Zone ankommen, geschieht ein kleines Wunder: &bdquo;Auf dem Bahnhof sollten wir in einen Personenzug umsteigen. Ich suchte nach einem Abteil für uns alle zehn, da sprach mich ein Soldat an.“ Er war selbst auf der Suche nach seiner Familie, und es stellte sich heraus, dass er Klaus’ Vater, der als vermisst galt, und dessen Aufenthaltsort in der Oberpfalz kannte: &bdquo;Die beiden waren zusammen aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden.“

Für die Herzogs geht es nun endlich nur noch bergauf. Die Mutti schreibt dem Vati eine Karte. Der Zug bringt die zehnköpfige Familie nach Detmold: &bdquo;Es war der zweite Ostertag 1946.“ Alle Passagiere werden auf Lastwagen verladen und aufs Land gefahren. Als es heißt &bdquo;zehn Personen aussteigen“ habe Tante Martha schon &bdquo;Wir“ gerufen. Und so landen die Flüchtlinge in Jerxen-Orbke.

Ein Teller voll Kuchen Der Bürgermeister weist die Mutter (&bdquo;vier Kinder haben Sie?“) bei Familie Strate ein: &bdquo;Als wir die Straße hinaufgingen, kam eine Frau aus dem Haus mit einem großen Teller Kuchen. Das war so unglaublich - ich wollte mich immer bei ihr bedanken, aber irgendwann war sie tot“, bedauert Klaus Herzog. Als Linus Herzog einen Monat später aus Bayern nach Lippe zieht, ist die Familie wieder vereint.

&bdquo;Wir hatten eine schöne Zeit bei Strates, und dann hat uns die Gemeinde ermöglicht, in Jerxen ein eigenes Haus auf einem Erbpacht-Grundstück zu bauen.“ Klaus Herzog macht gegen seine Willen eine Schneiderlehre: &bdquo;Vermutlich wollte mein Vater, der auch Schneider war, eine Werkstatt mit mir aufmachen.“ Doch daraus wird nichts: Nach seiner Lehre schafft er die Aufnahme an der Textil-Akademie und arbeitet später 40 Jahre als Unternehmensberater in der Branche.

Arme Polen, reiche Deutsche Zu den Polen, sagt er, habe er viele Jahre ein gespanntes Verhältnis gehabt - bis er es doch einmal wagt, mit seiner Schwester Helga Mitte der 90er Jahre nach Langenöls zu reisen. Dort revidierte er seine Meinung - und trifft vor ihrem ehemaligen Haus einen armen alten Mann, gezeichnet vom Leben, der nichts mehr hat als seinen Hund - wie sich herausstellt ein Sohn von einer der polnischen Töchter, die 1945 in ihr Haus eingewiesen worden waren: &bdquo;Was hatten wir bei unserer Vertreibung doch geglaubt, die großen Verlierer zu sein. Doch die Wirklichkeit entwickelte sich anders: Wir hatten bisher ein erfolgreiches und glückliches Leben, verglichen mit den Zurückgebliebenen!“

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