Lemgoer wird mit seiner Familie bei Bombenangriffen auf Danzig verschüttet

Lemgo. Ausgerechnet in die Großstadt Danzig, 30 Kilometer von ihrem Heimatdorf Klempin entfernt, flüchtete Dieter Podewils mit seiner Mutter, den Geschwistern und dem Großvater im Februar 1945. Wenige Tage später kommt es zu schweren Luftangriffen auf die Stadt. Dieter Podewils, damals erst neun Jahre alt, und seine Familie wurden verschüttet, ein Franzose rettete sie aus den Trümmern. Verschüttet war auch die traumatische Erinnerung an die Flucht und Vertreibung – bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine vor drei Jahren: &bdquo;Da kam alles wieder hoch“, sagt der 88-jährige Lemgoer.

Dieter Podewils, geboren am 17. Juli 1936, erlebt eine schöne Kindheit in dem 120-Seelen-Ort Klempin. Die Eltern haben sechs Kinder, von denen eins früh an Diphtherie stirbt, und einen Bauernhof mit Rindern, Pferden, Schweinen und Federvieh. &bdquo;Mein schönstes Erlebnis war, wenn mich mein Vater morgens aus dem Bett holte und in den Stall trug und ich ein in der Nacht neu geborenes Fohlen streicheln durfte“, erinnert er sich.

Der Hof liegt auf einer Anhöhe, schon Ende 1944 sieht man die Pferdetrecks der Flüchtlinge aus Ostpreußen gen Westen ziehen. Im Februar 1945 dann besetzen deutsche Soldaten auf dem Rückzug den Hof der Podwils. Der 88-Jährige erinnert sich mit Tränen in den Augen an einen grauenvollen Anblick: &bdquo;Auf der Ladefläche eines Lkw lagen tote deutsche Soldaten.“

Die Front rückt näher, die Mutter muss mit ihren Kindern das Dorf verlassen. Inzwischen sind sie nur noch mit vier Geschwistern: Brunhilde (21), Elfriede (17), Horst (14) und Dieter (9) – der älteste Bruder hat sich mit 17 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und kommt nie wieder. Mit dem Pferdewagen soll es zu Verwandten nach Danzig gehen. Dabei sind auch der 85-jährige Opa und zwei russische Kriegsgefangene: &bdquo;Die wollten mit uns mitgehen, denn sie hatten selbst Angst vor den russischen Soldaten“, sagt Dieter Podewils. Womöglich, weil sie als Deserteure, Kollaborateure oder Schwächlinge angesehen worden wären.

Aus Angst vor Tieffliegern flüchtet die achtköpfige Gruppe bei Nacht. Unterschlupf finden die Flüchtlinge bei einer Tante, die in Danzig ein Milch- und Lebensmittelgeschäft hat. Doch dann treffen Bomben das Haus. Der Opa, der es nicht rechtzeitig in den Keller schafft, stirbt in den Trümmern: &bdquo;Wir fanden ihn in einem Kleiderschrank“, berichtet Dieter Podewils. Er selbst habe tagelang nicht sprechen können – so viel Staub habe sich auf seine Stimmbänder gelegt.

Die Mutter möchte sich mit ihren Kindern in einen Hochbunker retten, doch der ist übervoll. Schließlich finden sie mit vielen anderen Unterschlupf in einem Keller eines unfertigen Wohnhausneubaus. &bdquo;Dann habe ich Danzig brennen gesehen, habe viele Tote - Zivilisten und Soldaten – gesehen. Und als Danzig in Schutt und Asche lang, marschierten die Russen ein und vergewaltigten die Frauen.“

Seine Mutter habe sich damals und auch später noch wie eine Glucke um ihre Kinder gekümmert. Von Vergewaltigungen seien sie deshalb verschont geblieben: &bdquo;Sie haben sich die Gesichter geschwärzt.“ Immer, wenn Russen in den Rohbau eindrangen, seien die Mädchen unter eine Decke geschlüpft, die Kinder hätten sich auf sie gesetzt. Dieter Podewils muss bei der Erinnerung schlucken: &bdquo;Aber alle konnten wir einfach nicht verstecken.“ Und knapp 80 Jahre später, mit dem Überfall auf die Ukraine 2022, habe ihn all das Erlebte wieder eingeholt, sagt er mit brüchiger Stimme.

Im Frühjahr geht es mit einem Handwagen, die Pferde sind längst beschlagnahmt und weg, für Mutter und Kinder zurück ins Dorf. Doch das Haus ist unbewohnbar, die Ställe kaputt, die Scheune abgebrannt. Die Familie findet Unterschlupf in der ehemaligen Schule: &bdquo;Gelebt haben wir von Lebensmitteln, die meine Mutter vor unserer Abreise unter der Scheune vergraben hatte und die nicht entdeckt wurden“, erinnert sich Dieter Podewils.

Und dann erhält die Familie überraschend Zuwachs: &bdquo;Meine Mutter übernahm noch die vier Kinder meiner Tante, die plötzlich gestorben war, im Alter zwischen 14 und 21 Jahren, darunter drei Mädchen. Sie hatte dann für acht Kinder zu sorgen.“ Die Gefahr, vergewaltigt zu werden, ist noch lange nicht gebannt, denn auch hier lauern russische Soldaten: &bdquo;Polnische Frauen haben den Russen erzählt, dass in unserer Familie Mädchen leben. Meine Mutter hat sie stets versteckt gehalten und ist mit ihnen nachts im Sommer in Kornfelder schlafen gegangen. Sie sei in Dieter Podewils’ Beisein von mehreren Russen geschlagen und mit einem Gewehrkolben gestoßen worden, weil sie nicht sagen wollte, wo sie die Mädchen versteckt hielt.

Zu jener Zeit lernt die Mutter auch einen deutschen Kriegsgefangenen kennen, der aus Windheim an der Weser stammt und, wie eins der Mädchen, an Typhus erkrankt ist: &bdquo;Meine Mutter hat ihm immer wieder fette Leberwurst gegeben, und vielleicht war das Fett gut – er wurde jedenfalls, ebenso wie meine Schwester, gesund“, erzählt Dieter Podewils. Die gefangenen Deutschen sind auf den Höfen untergebracht und müssen die Ernte einbringen – dann werden sie nach Sibirien verschleppt.

Fast zeitgleich im September 1945 wird auch Familie Podewils aus der Heimat vertrieben und in vollen Viehwaggons gen Westen transportiert. Dieter Podewils berichtet von Plünderungen durch Polen auf offener Strecke, von chaotischen Zuständen auf den Bahnsteigen von Stettin und Berlin. &bdquo;Wir haben in Berlin am Stettiner Bahnhof im Freien übernachtet und tagelang mit neun Personen in einem Schrebergartenhäuschen gelebt, bis wir nach Alexisbad im Harz kamen.“

Dort werden sie mit anderen Familien im Kurhaus untergebracht. Während eine Schwester, die Cousinen und der Cousin in der sowjetischen Besatzungszone bleiben, ziehen Dieter Podewils, seine Mutter und zwei Geschwister im Sommer 1946 in die britische Besatzungszone. Sie haben eine Adresse - in Windheim, dort, wo die Heimat des geretteten Soldaten liegt. Als sie dort ankommen, ist der inzwischen schon zuhause, geflohen aus russischer Gefangenschaft. &bdquo;Sein Vater war der Bürgermeister von Windheim. Die Familie hat uns aufgenommen und für alles gesorgt“, ist Dieter Podewils noch heute dankbar.

Sie bekommen eine kleine Wohnung, seine 16-jährige Schwester eine Stelle in einem Arzthaushalt, sein 15-jähriger Bruder beginnt eine Tischlerlehre. Dieter geht weiter zur Schule, später aufs Gymnasium nach Minden: &bdquo;Dort war ich einer der Ärmsten.“ Während er Polizist wird und später als Kripobeamter dem Land Nordrhein-Westfalen dient, bleibt sein 1948 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrter Vater nur Hilfsarbeiter: &bdquo;Das hat er sein Leben lang nicht verwunden.“

Der Familie hilft der dennoch finanziell über die Runden, indem er weitere Jobs annimmt, nachts Baustellen bewacht und Rübensirup herstellt und später &bdquo;schwarz“ Schweine schlachtet. Von seiner Zeit im Krieg aber spricht er nie. &bdquo;Ich weiß, dass er Scharfschütze war“, sagt Dieter Podewils und muss wieder schlucken.

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