Augustdorfer erlebt schöne Zeit in Oberfranken - bis es zum brutalen Überfall kommt

Augustdorf. Das Forsthaus Schnepfenberge liegt verlassen. Kein Fernseher. Kein Internet. Es ist das Jahr 1945. Klaus Mai lebt mit seiner Mutter und den beiden jüngeren Brüdern Uwe und Uli dort im Wald. Von den Kriegsgeschehnissen erfahren sie hier nicht viel. Doch am 25. Januar 1945 taucht plötzlich eine Gruppe Männer vom Volkssturm auf, um die Familie zu warnen: Der Russe ist auf dem Vormarsch, es ist höchste Zeit zu fliehen.

Klaus Mai ist damals fünfeinhalb Jahre alt, geboren am 24. Juni 1939 in Muschaken, heute Muszaki , im Kreis Neidenburg. Der kleinste Bruder ist noch keine zwei. Wie die Flucht genau vonstatten gegangen ist, daran kann Klaus Mai sich nicht erinnern. &bdquo;Ich weiß nur, dass wir zum Teil zu Fuß gelaufen und zum Teil mit dem Viehtransport mitgefahren sind", berichtet der Augustdorfer. Ziel ist Weißwasser in der Oberlausitz, wo die Eltern seiner Mutter leben.

Parade laufen mit dem Rucksack &bdquo;Damals hatte meine Mutter noch gedacht, der Russe käme dort nicht hin." Doch es dauert nicht lange, da muss auch die Bevölkerung von Weißwasser flüchten: &bdquo;Ich weiß noch, das meine Mutter für uns alle Rucksäcke genäht hat. Ich bin ganz stolz vor dem Haus Parade gelaufen." Den Ernst der Lage kann der kleine Klaus nicht erfassen.

Während die Großeltern zurückbleiben - einer muss ja aufs Haus aufpassen - besteigt Else Mai mit ihren Kindern, ihrer Schwester und deren Kindern den Zug, der sie weiter in den Westen bringt - nach Coburg in Oberfranken. Die Zeit in dem kleinen Dorf Oberfüllbach ist Klaus Mai in bester Erinnerung: &bdquo;In meiner Erinnerung war es ein großer Bauernhof, auch wenn ich später einmal bei einem Besuch erkannte, dass es ein relativ kleines Haus war. Wir wurden sehr gut behandelt. Es gab in Feld und Wald viel Platz zum Spielen. Und der Bauer hat sogar den Esstisch vergrößert, damit auch wir Platz daran hatten" - während er erzählt, treten ihm Tränen in die Augen.

Viele Jahre später ist er noch mal dort gewesen - sein &bdquo;Schwarm" von damals, die 17-jährige Helga, lebte inzwischen in einem Altenheim. &bdquo;Meine Eltern waren beide nach dem Krieg in Oberfüllbach gewesen und hatten sich für die Aufnahme der Familie bedankt und dabei ein Foto der kleinen Jungs dort gelassen", berichtet Klaus Mai. Für Helga habe die Einquartierung der Flüchtlinge wohl eine besondere Bedeutung gehabt - das Foto nahm sie sogar mit ins Altenheim.

Der Junge mit den blutenden Stumpen Von jener Zeit blitzen aber auch schlimme Erinnerungen auf: &bdquo;Einmal zogen Jungs einen Bollerwagen an mir vorbei, in dem auch ein Junge saß. Der war schwer verletzt. Er war auf einen Blindgänger getreten." Wo eben noch die Beine gewesen waren, sind jetzt nur noch blutige Stumpen - den Anblick kann Klaus Mai nicht vergessen.

Der Krieg ist noch nicht zu Ende. Amerikaner beschießen aus der Luft Menschen, die auf dem Feld arbeiten. Ein Militärwagen geht in Flammen auf - die Jungs laufen hin und schauen, ob sie helfen können. Zum Glück finden sie keine verkohlten Leichen, die Insassen haben sich vorher in Sicherheit bringen können.

Als der Krieg Anfang Mai zu Ende ist, wollen viele Flüchtlinge zurück in die Heimat. Else Mai jedoch traut dem Frieden nicht und genießt erst einmal die Ruhe im beschaulichen Oberfranken. Doch der Frieden ist trügerisch - am 20. September 1945 wird das Dorf überfallen. Es ereignen sich furchtbare Dinge, Scheunen und Häuser gehen in Flammen auf, mehrere Frauen werden vergewaltigt, es kommt zu Plünderung. Der gute Bauer, bei der Familie Mai lebt, wird an die Wand gestellt - doch zum Glück durch die Schüsse nur am Ohr verletzt.

Auch in das Schlafzimmer der Brüder dringen die Täter ein: eine große Gruppe Polen, die im Internierungslager in Coburg von den Deutschen eingesperrt worden war und nun Rache nimmt: &bdquo;Einer hat mich aus dem Bett gezerrt und eine Streichholzschachtel entdeckt, die ich unter dem Kopfkissen versteckt hatte. Da waren aber nur zehn Pfennig drin; die hat er mir verächtlich an den Kopf geworfen."

Amerikaner duldeten viel Unrecht Die amerikanischen Besatzer, ist Klaus Mai überzeugt, hätten in der Anfangsphase viel Unrecht an Deutschen geschehen lassen, ohne einzuschreiten. Getreu dem Motto: Seht nur, was Euch die Nazis eingebrockt haben. Doch diese Gewalttaten bringen das Fass zum Überlaufen: Am Tag darauf kommt es zu Gegenüberstellungen durch die Amerikaner, bei denen einige Täter identifiziert werden. Wie Klaus Mai später erfährt, werden die Männer verurteilt und mit harten Strafen bis hin zu Todesstrafen belegt.

Seine Mutter hält es nach dem Vorfall in Franken nicht mehr aus, sie kehrt zurück nach Weißwasser, schwarz über die Grenze zurück in den russischen Sektor. Ein gefährliches Unterfangen mit den kleinen Kindern im Schlepptau, die nicht immer auf Kommando still sind, doch es klappt.

Klaus Mai wird im Oktober 1945 in Weißwasser eingeschult: &bdquo;Zur Einschulung gab es keine Zuckertüte, sondern eine große Runkel, aus der für alle ein Essen gekocht wurde", erinnert er sich. Kurz darauf ist die Familie wieder zusammen. Der Vater kehrt aus französischer Kriegsgefangenschaft heim und findet Ende 1945 eine Anstellung in Schloss Senden. Wieder muss die Mutter mit ihren drei Söhnen umziehen, diesmal ins Münsterland, dem britischen Sektor.

Als Förster hoch angesehen Doch auch hier bleibt die Familie Mai nicht lange: Weil in Augustdorf eine Stelle als Förster frei wird, zieht sie im Dezember 1948 erneut um. Viel zu transportieren gibt es nicht. Doch nun ist die Zeit der beengten Verhältnisse vorbei: &bdquo;Plötzlich hatten wir ein großes Haus." Während andere Heimatvertriebene und Flüchtlinge als &bdquo;Pollaken" oder &bdquo;Russen" beschimpft werden, müssen die Mais keine Erniedrigungen fürchten - schließlich werden sie nicht als klassische Flüchtlinge angesehen, und die gesellschaftliche Stellung des Försters ist hoch, ebenso wie die von Polizisten, Lehrern oder Pfarrer.

Auch wenn Klaus Mai, der später Lehrer wurde, sich an schlimmste Nachkriegsgeschehnisse nicht mehr erinnern kann, so bleibt doch die Bewunderung für seine Mutter und all die anderen Frauen, die körperlich und psychisch immer wieder an ihre Grenzen gingen, um die Kinder und alten Menschen - Tanten, Eltern, Großeltern - zu retten: "Was sie geleistet haben, ist nicht zu beschreiben und zu ermessen. Und ganz viele, die dafür verantwortlich waren, hatten sich davongemacht oder ihre Hände in Unschuld gewaschen."

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