Erst die Todesnachricht, dann die Flucht: Junge Mutter landet mit drei Kindern in Detmold

Detmold. Als sie wenige Wochen nach Beginn des Ukraine-Kriegs im Fernsehen einen Soldaten in einen Zug steigen sah, dessen Frau mit Baby auf dem Arm ihn am Bahnsteig an die Front verabschiedet, brach Margrit Vathauer in Tränen aus. &bdquo;Plötzlich kam alles in mir hoch“, erinnert sich die Detmolderin an diesen emotionalen Moment. Es kam ihr vor, als sei sie das Kind auf dem Arm der Soldatenfrau. Denn ihren Vater lernte sie nie kennen. Er fiel in Russland im März 1943, da war Margrit Vathauer, geborene Hengstler, noch keine zwei Jahre alt.

Lehrerin überbringt Todesnachricht &bdquo;Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich im Garten war und meine Lehrerin kam und mit meiner Mutter sprach. Und plötzlich fing meine Mutter an zu schreien“, erinnert sich Margrit Vathauers Bruder Horst Hengstler (89) an den Moment, als seine Mutter Olga die Todesnachricht erhielt. Ihr Ehemann Alfred wurde nur 33 Jahre alt. Die junge Frau stand plötzlich mit drei kleinen Kindern alleine da.

Die Hengstler-Geschwister, Jahrgang 1936, 1938 und 1941, wurden in Lodz geboren, heute die viertgrößte Stadt Polens mit einer wechselvollen Geschichte. Der Vater war, bevor er in den Krieg ziehen musste, Fahrkartenkontrolleur in der Straßenbahn 1 gewesen, die Mutter Hausfrau. Als die rote Armee näher rückt, versucht die Familie im Januar 1945 das erste Mal zu flüchten, doch das Pferdegespann kommt nur wenige Kilometer weit, dann gerät es zwischen die Fronten; ein Pferd stirbt, das zweite wird schwer verletzt. Die Flüchtenden müssen kehrtmachen.

Am 13. Oktober 1945 werden die Hengstlers aus ihrem Doppelhaus vertrieben. &bdquo;Meine Mutter hatte einen großen Koffer mit den Wertsachen und den Papieren und zwei Taschen dabei“, erinnert sich der damals zehnjährige Horst. Doch bei erstbester Gelegenheit wird der Koffer von einem Polen gestohlen. Die Flüchtlinge reisen per Bahn und zu Fuß in Richtung Westen. Immer wieder kommt es zu Gewalt.

Russische Soldaten retten ihnen das Leben Auf einem Bahnsteig an der Grenze zu Deutschland, Horst Hengstler erinnert sich nicht an den Namen der Stadt, sei es zu schlimmen Übergriffen auf die Flüchtlinge durch Polen gekommen. Zwei russische Soldaten weisen der Mutter und ihren Kindern den Weg – und, so glaubt der 89-Jährige heute, hätten ihnen damit das Leben gerettet.

In Halle/Saale hält der Zug, am Bahnhof gibt es eine Speisung durch das Rote Kreuz: &bdquo;Ich weiß noch, wie meine jüngeren Geschwister Brei bekommen haben, und ich habe sehnsüchtig geguckt, wie du gefüttert wurdest“, erzählt er und blickt seine fünf Jahre jüngere Schwester Margrit an. Er selbst habe nämlich nur Wassersuppe bekommen. Dennoch überleben die Mutter und alle drei Kinder – im Gegensatz zu anderen: Ein gerade mal einjähriger Verwandter sei zu jener Zeit verhungert, ein ehemaliger Hitlerjunge zu Tode geprügelt worden, erinnern sich die Geschwister im LZ-Gespräch.

Die Flucht endet nach zehn Tagen, am 23. Oktober 1945, in Detmold. &bdquo;Zuerst waren wir zwei Tage in der damaligen Kaserne nahe dem Hallenbad, dann wurden wir auf Militärlaster verladen“, berichtet Horst Hengstler. Ursprünglich soll es nach Nienhagen gehen, doch dort sind die Häuser schon voll. Es dämmert schon, als die Flüchtlinge in Jerxen-Orbke ankommen.

Gastfreundschaft in Orbke In Orbke wird die Familie bei der Wohngemeinschaft von Mahlmann, Busch und Hüls in der Kreuzstraße einquartiert. Sie wird sehr gut aufgenommen und kommt im Dachgeschoss unter. Dass Flüchtlingen nicht überall Gastfreundschaft und Respekt entgegengebracht wurde, wissen die Geschwister nur zu gut.

&bdquo;Ich bin vor allem Hans Hüls dankbar, der dafür gesorgt hat, dass ich eine Klasse höher gekommen bin und mir die Gegend, die Externsteine und die alten Straßen von Detmold gezeigt hat“, sagt Horst Hengstler rückblickend: &bdquo;Er hatte Verständnis und hat mich nie Pollacke geschimpft.“

Das eine Zimmer unterm Dach bietet den vier aus Lodz Vertriebenen lange Zeit ein Zuhause. &bdquo;Die Vermieterin war immer nett zu uns, sie hat nie ein böses Wort verloren“, betonen die beiden Geschwister. Noch Jahre nach dem Auszug besucht Margrit Vathauer sie regelmäßig am Jahrestag der Ankunft und bedankt sich mit Blumen.

Allerdings werden die &bdquo;Fremden“ in der Schule und anderswo für alles verantwortlich gemacht, das schief geht. Sie sind bitterarm, haben zunächst nicht mehr Besitz als der Inhalt der zwei Taschen, die die Flucht überstanden haben. &bdquo;Ich hatte noch nicht mal eigene Schuhe – auf der Flucht trug ich Lederstiefel meiner Mutter. Die waren viel zu groß, ich hab mir alles aufgescheuert“, erinnert sich Horst Hengstler, wie die Vermieterin Frau Busch immer entsetzt darüber gewesen sei, dass der Junge barfuß lief.

Hochzeit am Jahrestag der Vertreibung 1962, genau am 13. Oktober, dem Jahrestag der Vertreibung, heiratet Horst Hengstler seine Wilma, gebürtig aus Lage. Er macht eine Tischlerlehre. 1963 baut die Familie in Heidenoldendorf ein Haus, in dem Wilma auch eine Heißmangel betreibt. Horst Hengstler ist bis zu seinem Ruhestand mehr als 25 Jahre für das Krankenhauslager in Detmold zuständig. Margrit Vathauer besucht die Höhere Handelsschule, wird Versicherungskauffrau, arbeitet später beim Landeskirchenamt. Sie heiratet einen Mann mit Wurzeln in Horn und lebt heute auf dem Schling.

Die Flüchtlinge sind bereits einige Jahre nach ihrer Ankunft in Lippe integriert und akzeptiert. Horst Hengstler hat auf dem Schrank eine Karte stehen: Der SV Jerxen-Orbke will ihn demnächst für 70 Jahre Mitgliedschaft ehren. &bdquo;Wir haben Glück gehabt, dass wir in Detmold gelandet sind“, sind sich beide einig.

Mutter Olga Hengstler stirbt 2003. Sie habe nicht gewollt, dass die Familie je wieder einen Fuß in die alte Heimat im jetzigen Polen setze. Kurz nach ihrem Tod fahren die Kinder Margrit und Horst zu ihren Wurzeln nach Lodz.

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