Detmolder Expertin erklärt: Warum ADHS bei Erwachsenen immer stärker in den Fokus rückt

Lemgo. In der VHS im Haus Wippermann war jeder Platz besetzt. Psychotherapeutin Mara Pairan sprach über das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS). Bislang war das vor allem bei Kindern bekannt, doch immer mehr rücken auch die Erwachsenen in den Fokus.

Frau Pairan, die Nachfrage ist groß. Ist das ein neues Phänomen oder warum scheinen immer mehr Erwachsene von ADHS betroffen?

Mara Pairan: Die Forschung ist einfach weiter und immer deutlicher wird: ADHS wächst sich nicht aus. Wer also als Kind von der Funktionsstörung betroffen ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener noch darunter leiden. Man spricht von einer Persistenz von 40 bis 60 Prozent.

Das heißt, einmal ADHS immer ADHS?

Mara Pairan: In den meisten Fällen muss man davon ausgehen. Generell kann man sagen, dass ADHS im Kindesalter beginnt, vor dem 12. Lebensjahr, und die Betroffenen durchs Leben begleitet. Früher wurde das Syndrom als Kinderkrankheit abgestempelt. Viele Kinder entwickeln im Laufe der Jahre Strategien, die Dysfunktion bestmöglich zu verschleiern. Das wird dann bis ins Erwachsenenalter perfektioniert. Betroffene, die nicht still sitzen können, entwickeln Strategien, um es verstecken, andere, die sich schlecht konzentrieren können, behelfen sich mit Post-its oder auch Checklisten. Und damit kommen sie teilweise relativ unauffällig durch den Alltag.

Die Symptome der Dysfunktion sind vielfältig. Besteht nicht die Gefahr, jegliche Art von Problemen als ADHS abzustempeln?

Mara Pairan: Es stimmt, die Erscheinungsformen können ganz unterschiedlich sein. Sie reichen von Hyperaktivität über Rastlosigkeit bis hin zu Konzentrationsproblemen, mangelnder Impulskontrolle oder auch emotionalen Problemen. Bei der Diagnostik unterscheiden wir unterschiedliche Bereiche. Mindestens zwei müssen betroffen sein. Die Diagnose ist dann ein eindeutiger Befund, der auch von den Krankenkassen anerkannt wird.

Manche sprechen bei dem verstärkten Auftreten auch von einer Modeerscheinung?

Mara Pairan: Das ist sicherlich nicht der Fall. Meiner Ansicht nach gibt nicht mehr ADHS-Betroffene als früher, vielmehr ist die Aufklärungsrate heute wesentlich größer. Es ist wie mit einem guten Fernrohr: Wir haben ja nicht mehr Sterne am Himmel als früher, aber wir sehen mit modernem Gerät eben deutlich mehr.

Sie bieten die entsprechende Diagnostik an. Wie reagieren die Betroffenen auf einen positiven Befund?

Mara Pairan: Der Leidensdruck der Menschen ist groß. Die, die zu mir kommen, wollen endlich Klarheit haben. Meist wissen sie längst, dass sie an ADHS leiden. Steht der Befund, bedeutet das für viele eine starke Erleichterung. Manche lachen sogar. Endlich wissen sie definitiv, was bei ihnen anders ist. Sie sind nicht dumm oder psychisch krank. ADHS ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Das Gehirn der Betroffenen funktioniert einfach anders.

Sie sagen, der Leidensdruck ist groß. Welche Schicksale haben sie erlebt?

Mara Pairan: Es gibt Betroffene, die stark depressiv sind, die sich für Verlierer halten. Aufgrund der Entwicklungsstörung können sie nicht den Normen entsprechen, weder bei der Arbeit, noch im sozialen Umfeld. Das führt zu Ablehnung. Viele haben verinnerlicht: Da stimmt etwas nicht mit mir. Ich bin weniger wert.

Wie kann es nach der Diagnose weitergehen?

Mara Pairan: Hilfe können Medikamente und/oder eine Psychotherapie bieten. Die Suche nach dem passenden Arzt kann trotz Befund allerdings lange dauern. In OWL etwa gibt es kein passendes Netzwerk.

Medikamente, wie etwa Ritalin, standen bei Kindern durchaus in der Kritik. Sie befürworten sie dennoch?

Mara Pairan: Medikamente bleiben das bevorzugte Mittel der Wahl. Bis zu 40 Prozent der Betroffenen erleben unter der regelmäßigen Einnahme eine Normalisierung. Aber natürlich muss die nötige Medikamentengabe genau getestet werden. Niemand muss Sorge vor einer Persönlichkeitsänderung haben. Vielmehr bietet die medikamentöse Therapie meines Erachtens die Möglichkeit, das rasende Gedankenkarussell zu stoppen und damit sein Potenzial endlich auszuschöpfen. Ergänzend kann eine Psychotherapie eingesetzt werden.

Ist ADHS heilbar?

Mara Pairan: ADHS ist nicht heilbar, aber gut behandelbar. Die Ursachen von ADHS sind noch unklar. Man geht von einer genetischen Diversität aus, allerdings ist noch wenig darüber bekannt, welche Gene betroffen sind. Sicher ist aber, dass es sich um eine Erbkrankheit handelt.

Das heißt, ADHS zieht sich in den Familien durch die Generationen?

Mara Pairan: So ist es. Selten wird eine Generation übersprungen. Vielen Eltern wird erst nach der Diagnose bei ihren Kindern klar, dass sie selbst auch betroffen sind. Dann können sie sich vieles erklären. Aktuell sind mehr Jungen als Mädchen diagnostiziert. Das mag aber auch daran liegen, dass Mädchen oft unauffälliger im Auftreten sind. Sie reden eher viel, wirken verträumt, während die Jungen zappeliger sind.

Was raten Sie Betroffenen?

Mara Pairan: Auch mit Diagnose bleibt es schwierig, passende Ärzte und Ärztinnen zu finden. Und die Wartezeiten sind lang. Aber vorab gibt es Strategien und Anwendungen, die sich auch digital abrufen lassen. Ausdauersport zum Beispiel gilt als sehr hilfreich. Entspannungsmethoden, gesunde Ernährung, genügend Wasser trinken. Eigentlich einfache Basics, die Betroffenen aber oft schwerfallen.

Und dann helfen auch gewisse Routinen, zum Beispiel ein geregelter Tagesablauf, eine To-do-Liste aufschreiben, um sich Strukturen zu etablieren und sich an Aufgaben zu erinnern. All das kann deutliche Entlastung bringen. Nicht immer sind Medikamente zwingend nötig.

Zur Person Mara Pairan (32) hat Psychologie in Leipzig studiert und anschließend die Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin abgeschlossen. Sie war zunächst vorwiegend auf Online-Plattformen aktiv, bot dort unter anderem Hilfe beim Zeitmanagement an. Über die Zusammenarbeit mit Angelina Boerger, der Autorin von &bdquo;Kirmes im Kopf“, kam sie zum Thema ADHS bei Erwachsenen, das auf große Nachfrage stößt. Mara Pairan lebt in Detmold.

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