Vieregge: Zu erkennen, dass der Partner an mehr als an Altersvergesslichkeit leidet, ist schwer. Doch es sind bei der Alzheimer-Krankheit im frühen und mittleren Stadium nie alle Gehirnbereiche betroffen. Die Gefühlswelt kann völlig intakt sein, Betroffene singen gern. Das wichtigste ist: Demente brauchen Zeit. Also nehme man sie sich!
Es muss nicht alles „jetzt, gleich, sofort und hier“ sein?
Vieregge: Der Demenzkranke muss sich geborgen fühlen: Farben, Kleidung. Allgemein rate ich, ihn „zu lassen“, solange er nicht sich oder andere gefährdet. Lieblingsspeisen, Lieder, Fotos sind wichtig. Keine Ungeduld, keine Vorwürfe. All dies ist schwer, wenn man es als Angehöriger über Jahre durchhalten soll. Eine Familie sollte die Lasten verteilen, so gut es geht.
Was muss die Medizin leisten?
Vieregge: Es wird bald in vielen Krankenhäusern Stationen geben, in denen demente Patienten mit unterschiedlicher Begleitdiagnose - ob Hüftfraktur, Gallenkolik oder Schlaganfall - zusammen versorgt werden, weil wir in einer solchen Atmosphäre diesen Patienten mit geschultem Personal besser gerecht werden. Gerade jüngere Ärzte müssen sich vermehrt einarbeiten, die Schmerztherapie ist anders. Aber was Schwestern, Pfleger, Ärzte vor allem benötigen, ist Empathie, Zeit und Geduld - alles Dinge, die im Krankenhaus eher zu kurz kommen.
In Lippe und anderswo gibt es zu wenig niedergelassene Neurologen. Warum?
Vieregge: Neurologie hat den Ruf eines „schweren“ Faches, und Neurologie ist schwer. Man braucht Jahre, um die exakte Anatomie des Gehirns zu kennen. Zudem nimmt das Wissen darum rasant zu. Man muss als Arzt in der Ausbildung viel lernen. Um das Wissen richtig, mit Erfahrung, anzuwenden, dauert es Jahre. Und es gilt, sich weiterzubilden. Das hat viel mit Anstrengung zu tun. So ist es nicht übertrieben zu sagen, dass es Gebiete in der Medizin gibt, in denen ein Kollege „schneller“ ein guter Arzt mit Erfahrung werden kann.
Was ist denn für Sie das Schöne an Ihrer Arbeit?
Vieregge: Gehirnerkrankungen verlangen eine individuelle Sicht auf den Patienten, also muss ich die Behandlung individuell betrachten und gestalten. Neurologen haben den ganzen Menschen zu berücksichtigen, nicht „nur“ eine gebrochene Hüfte oder ein zu laserndes Auge. Das macht Freude, denn persönliche Befragung und Untersuchung spielen eine große Rolle. Sprachliche Anforderungen an Ärzte aus dem Ausland müssen höher sein als in anderen Fächern.
Das Interview führte LZ-Redakteur Martin Hostert.