Detmold. Zwei T-Shirts, zwei Jeans, Wasser und Brot: Das war das Gepäck, mit dem Mohibullah Kunduz verließ. Er stieg in einen Lastwagen, eingepfercht mit etwa 50 anderen Jugendlichen. Ziel ungewiss. Nur raus aus dieser Stadt, die vom Terror regiert wird. Mohibullah landete letztendlich in Detmold.
Hier lebt er seit etwa zwei Monaten in einer Einrichtung der Fürstin-Pauline-Stiftung. Hier besucht er eine internationale Klasse am Berufskolleg. Und er ist glücklich, "very happy", wie er betont - und strahlt. Es ist dieses Strahlen, das mehr als 1000 Worte sagt, wie dankbar Mohibullah ist, in seiner neuen Heimat angekommen zu sein. Und das, obwohl er allein und seine Zukunft ungewiss ist. Mohibullah, der sein eigenes Alter mit 16 angibt, ist einer von derzeit 100 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, um die sich die lippischen Jugendämter kümmern müssen.
Ab dem 1. Januar wird in Detmold ein Clearinghaus mit zehn Plätzen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eingerichtet. Träger sind die Fürstin-Pauline-Stiftung, das SOS Kinderdorf und das Elisabeth-Kinderheim. Leiter ist Florian Heim. Neun Mitarbeiter stellen eine 24-Stunden-Betreuung sicher. Die Flüchtlinge werden bundesweit auf die Jugendämter verteilt. Danach beginnt das Clearingverfahren: Es werden Gesundheitszustand, Bildungs- und Familienstand, rechtlicher Status und Fluchtgeschichte beleuchtet. Das geschieht in stationären Einrichtungen der regulären Jugendhilfe. Heim geht davon aus, dass kein Jugendlicher länger als sechs Monate in dem Clearinghaus bleiben wird. Das Kreisjugendamt ist für 26 Flüchtlinge zuständig. Das Jugendamt in Lemgo betreut 15, das Detmolder 23, das Lagenser 6 und das Bad Salzufler etwa 30 . Danach werden die Jugendlichen stationär betreut, kommen in eine Gastfamilie, eine Wohngruppe oder in eine Wohnung mit Betreuung.
Sechs Geschwister, vier Brüder und zwei Schwestern - die älteste 20, der jüngste 10 - und die Eltern leben noch in Afghanistan. Wo sie nun sind, weiß Mohibullah nicht. Vielleicht in Pakistan? Über das Internet skypte er mit seinen Eltern, doch seit zwei Wochen hat er keinen Kontakt mehr gehabt. Er vermisse seine Eltern und er möchte, dass auch sie nach Deutschland kommen. Und doch weiß er, dass sie es aus eigener finanzieller Kraft nicht schaffen werden. Er war der einzige, für den die Eltern das Schlepper-Geld aufbringen konnten.
Die Reise nach Deutschland dauerte einen Monat, erzählt er: Über den Iran, die Türkei und Ungarn ging es, bis er in München, dann in Frankfurt, schließlich in Dortmund landete: "Ich habe gesagt, ich bin 16, aber die haben gesagt, ich bin 18", berichtet er. Wäre er gleich als Minderjähriger eingestuft worden, hätte er vor Ort in Obhut genommen werden müssen. Doch so ging seine Reise weiter: Über Bielefeld nach Oerlinghausen. Erst dort wurde sein Alter vom Jugendamt geschätzt, denn offizielle Dokumente gab es nicht. Ergebnis: Mohibullah ist wirklich 16. Das Jugendamt musste eine Inobhutnahme einleiten.
Seither lebt der junge Flüchtling in der Diagnosegruppe der Fürstin-Pauline-Stiftung: Zusammen mit drei anderen Flüchtlingen, zusammen aber auch mit deutschen Jugendlichen. Das klappe gut, bestätigt Florian Heim, der Mohibullah von Anfang an begleitet hat. Der pädagogische Mitarbeiter weiß von traurigen, aber auch von lustigen Begebenheiten zu erzählen. "Einmal haben die Jungen für uns Hühnchen gekocht. Und Mohibullah hat via Skype mit seiner Mutter telefoniert und ihr den Kochtopf gezeigt, um zu fragen, ob das Huhn gar ist", lacht Heim. Mohibullah strahlt schon wieder. Kochen? "Ich kann Reis, Eier, Pommes - und auch Kuchen backen." Und am Putzen habe er Spaß. Ein muslimischer Junge, der putzt und kocht? Mohibullah scheint das nichts auszumachen, er nickt und strahlt. Er mag deutsches Essen, Fernsehen, Weihnachten, Taekwondo und Boxen - und feiern und ausgehen.
Fast wie ein deutscher Junge. Aber eben auch nur fast. "Zwischendurch kommen dann auch die schlimmen Erlebnisse hoch: Dann berichten die Kinder davon, wie die Taliban die Häuser überfallen haben oder Menschen töteten, weil sie abends noch draußen waren", erzählt Florian Heim. Die Taliban hätten auch die Kinder seiner Schwester umgebracht, sagt Mohibullah.
Lautes, gefährliches Kunduz gegen beschauliches Lippe: "Hier sind keine Menschenmassen. Alles ist so langsam", ist er von Detmold begeistert. Sein Traum ist es, hier zu bleiben: "In einer Gastfamilie, damit ich schneller Deutsch lerne. Oder auch mit Mohammed in einer Wohngemeinschaft. Das ist auch gut." Und wenn er hier bleiben kann, dann möchte er gerne weiter zur Schule gehen, viel lernen und eine Ausbildung machen: "Am liebsten als Automechaniker."