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Auch Lipper waren Täter in der NS-Zeit

Doch die Justiz bestrafte nur wenige von ihnen – mit milden Urteilen

Marianne Schwarzer

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Vollkommen zerstört: Auch die Detmolder Synagoge wurde 1933 zur Zielscheibe der heimischen Nationalsozialisten. Das Bild wurde 1939 aufgenommen. - © Stadtarchiv
Vollkommen zerstört: Auch die Detmolder Synagoge wurde 1933 zur Zielscheibe der heimischen Nationalsozialisten. Das Bild wurde 1939 aufgenommen. (© Stadtarchiv)

Kreis Lippe. Sie haben Juden drangsaliert, die Detmolder Synagoge angezündet, jüdische Geschäfte in Lippe verwüstet, Zwangsarbeiter verprügelt, gemordet, Menschen zwangssterilisiert und Kriegsverbrechen begangen. Sie alle waren Lipper. Doch nur wenige mussten sich für ihre Gräueltaten während der NS-Zeit verantworten, sagt der Blomberger Stadtarchivar Dieter Zoremba.

Zoremba ist einer der Experten für die NS-Geschichte in Lippe. „Man bediente sich lange Zeit gern der ebenso bequemen wie unhaltbaren Behauptung, die Deutschen seien von den Nazis verführt worden und die Spitzen der Nazi-Clique seien die eigentlichen Täter", sagt er, und er kann das Gegenteil belegen.

Täter fanden sich in allen Bevölkerungsschichten, die meisten kamen unbestraft davon. Immerhin wurden im Februar 1948 die SA-Leute Gustav Borowski und Heinrich Reineke zu acht beziehungsweise fünf Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie den jüdischen Viehhändler Ernst Maas durch Detmold getrieben und misshandelt hatten. Reineke hatte wie der stellvertretende Bürgermeister Wilhelm Schürmann und die Pfarrerswitwe Meta Ulmke auch 1938 an Aktionen gegen das Geschäft der jüdischen Familie Baer teilgenommen. Die überzeugte Nationalsozialistin hatte Sprechchöre vor dem Haus angestimmt: „Der Jude muss heraus! Der Jude soll verrecke! Wir wollen Judenblut fließen sehen!" Sie musste gerade mal 14 Tage ihrer zehnmonatigen Haftstrafe absitzen.

Von den mehr als 60 Verdächtigen, die in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 an der Zerstörung der Detmolder Synagoge teilgenommen und jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet haben sollen, konnte der vom Staatsanwalt als treibende Kraft ermittelte NSDAP-Kreisleiter Wedderwille nicht mehr belangt werden, er war 1947 gestorben.

Nur der SS-Mann Wilhelm Radau musste drei von sechs Monaten Haftstrafe absitzen – alle anderen gingen straffrei aus. Die Ermittlungen gegen den Mörder der Horner Jüdin Julie Hirschfeld, der die damals 82-Jährige die Treppe hinunter gestoßen hatte, führten noch nicht einmal zu einer Verurteilung – sie verliefen im Sande.

Angeklagt wurden immerhin die Horner Hermann Droste, Karl Jülicher, Albert Koch, Adolf Brenker, Erich Müller, Friedrich Lahme und Heinrich Wiedemeier, die sich in der Pogromnacht Juden und ihre Wohnungen in Haaren (Kreis Paderborn) vorgenommen hatten.

Die Freie Presse berichtet am 29.11.1947 von dem Prozess gegen sie, in dem auch ein Opfer als Zeugin zu Wort kam: „Da stand Frau Herta Stern, eine der wenigen Überlebenden aus Hitlers Konzentrationslagern, und schilderte die Schreckensnacht von Haaren, wie man die Männer der jüdischen Gemeinde verhaftete, um sie nach Buchenwald zu transportieren, wie in den Wohnungen geplündert und zerstört und nicht einmal das Bethaus verschont wurde." Der Prozess endete mit Verurteilungen zu sechs bis 15 Monaten Gefängnis.

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Ein Massenmörder aus Lippe

Unter Lippes kleinen NS-Lichtern war ein besonders großes: Der SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, Jürgen Stroop, der von 1895 bis 1934 in Detmold lebte, hat den Aufstand im Warschauer Ghetto niedergeschlagen und die Zerstörung organisiert. Die Überlebenden wurden in Treblinka ermordet. 1951 wurde Stroop in Polen hingerichtet. Zuvor schrieb er: „Mein ganzes Leben galt dem Dienste des Vaterlandes und dem Wohl meiner Frau und meiner Kinder. Niemals in meinem Leben habe ich etwas getan oder unternommen in dem Bewusstsein, dass ich dafür bestraft werden könnte."

47 lippische Denunzianten, gegen die die Staatsanwaltschaft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt hatte, kamen dagegen ungeschoren davon. Ungesühnt blieb auch der Mord an dem polnischen Zwangsarbeiter Stefan Bolweski, der sich in Ehrsen bei Bad Salzuflen in eine Deutsche verliebt hatte. Er wurde vor den Augen unzähliger Schaulustiger in einem Steinbruch erhängt. Weitgehend ungesühnt blieb auch die Ermordung der drei russischen Kriegsgefangenen im Wald bei Veldrom, nur ein Täter wurde vor Gericht gestellt.

Für die Lynchjustiz an fünf abgeschossenen amerikanischen Soldaten im Kalletal, denen drei Polizisten auf Befehl des Horner Ortsgruppenleiters Heinrich Jürgens ins Genick geschossen hatten, wurden die Täter von einem amerikanischen Militärgericht verurteilt und hingerichtet. Doch Jürgens selbst verbrachte seinen Lebensabend wie der Lagerleiter von Fossoli, Karl-Friedrich Titho, unbehelligt in Horn-Bad Meinberg.

Für Stadtarchivar Dieter Zoremba ist es ungeheuerlich, dass die Täter nicht intensiv verfolgt und ihre Taten geahndet wurden. Andererseits: „Nur weil die Staatsform sich verändert hatte, waren der Antisemitismus und rassistisches Denken nicht plötzlich verschwunden. So verwundert es nicht, dass die Nachkriegsgesellschaft und auch die Justiz lange Zeit noch von Denkmustern des NS geprägt war."

Unzählige „kleine Täter" mussten sich daher niemals verantworten. Gerade vor diesem Hintergrund findet es Zoremba richtig, dass Prozesse wie der gegen den Auschwitz-Wachmann Hanning stattfinden, „nur leider viel zu spät."

Kommentar: Es beginnt in den Köpfen

von Marianne Schwarzer

In der Residenzstadt steht derzeit ein Auschwitz-Wachmann vor Gericht. Hunderte Lipper haben sich niemals dafür verantworten müssen, dass sie das System unterstützt haben, das Auschwitz erst ermöglicht hat. Selbst wenn sie selbst niemals aktiv bei Hitlers Vernichtungsplan mitgewirkt haben sollten: Verantwortlich sind alle, die nicht aktiv Widerstand geleistet haben.

Die meisten haben sicher nicht selbst den Zaun eines Vernichtungslagers bewacht, nie eine Waffe gezückt, nie einen Brandsatz auf die Synagoge in Detmold geworfen, nie mit Meta Ulmke eingestimmt in den Sprechchor vor jüdischen Geschäften. Doch viele haben in den 30er Jahren ihr Kreuzchen für die NSDAP gemacht, und noch mehr haben geschwiegen, wenn die Braunen ihre Hetzparolen skandiert haben – aus Gleichgültigkeit, später auch vielleicht aus Angst. All das ist verständlich.

Was hätte ein Josef Goebbels getan, wenn er sich statt des Volksempfängers unserer „sozialen" Medien hätte bedienen können? Wie viele Likes hätte er geerntet mit seiner Hetze gegen Juden und andere Minderheiten? Und wie viele Menschen hätten täglich das Gift im Internet geschluckt, ohne auch nur ein einziges Mal dagegen zu halten?

Wer mit dem Finger auf Reinhold Hanning zeigt – der zu Recht vor Gericht steht – sollte sich diese Fragen stellen. Wehret den Anfängen.

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