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Kreis Lippe

Nach dem Militärputsch: LZ fragt Unternehmen, Vereine und Reisebüros

Der Deutsch-Türkische Freundeskreis ist unsicher, ob der Schüleraustausch zwischen Lemgo und Bursa wie geplant fortgesetzt werden kann

Thomas Reineke, Erol Kamisli

Kreis Lippe. Wie geht es nach dem Putschversuch in der Türkei weiter? Aktuell glühen die Drähte von in Lippe lebenden Türken in ihre Heimat. Die Wirtschaft verfolgt die Entwicklung ebenso aufmerksam (siehe nebenstehenden Bericht). Der Deutsch-Türkische Freundeskreis in Lemgo ist „erschrocken" über die Geschehnisse, während es in den Reisebüros noch relativ entspannt zugeht. Hier ein Überblick:

Er lebt seit 1971 in Deutschland, aber mit den Gedanken ist er in diesen Tagen oft in der alten Heimat. Ismail Aytekin (63) ist ein Motor des Deutsch-Türkischen Freundeskreises in Lemgo. Dieser organisiert seit 15 Jahren einen Schüleraustausch zwischen der alten Hansestadt und Bursa, der mit knapp drei Millionen Einwohnern drittgrößten Stadt der Türkei im Westen des Landes. „Meine Familie lebt in Bursa, bei denen ist zum Glück alles ruhig", sagt Aytekin. Ebenso bei seinen Neffen in Istanbul. Trotzdem macht sich Aytekin wie seine Mitstreiterin Karin Hehner-Rügge Sorgen um die Fortsetzung des Schüleraustausches. „Wir wollen in der ersten Herbstferienwoche mit 14 Schülern nach Bursa. Wir 
beobachten die Entwicklung daher genau", sagt Aytekin.

Am 19. August soll es ein Gespräch mit den 14- bis 16-Jährigen sowie deren Eltern geben. „Dann wollen wir entscheiden, ob wir fahren. Den Flug haben wir noch nicht gebucht. Die Jugendlichen werden bei Gastfamilien untergebracht", sagt Karin Hehner-Rügge, die nach eigenen Angaben „erschrocken" über die Nachrichten aus der Türkei ist. Sie sagt aber auch: „Man kann von hier nicht beurteilen, was in dem Land wirklich los ist."

Während der Freundeskreis über seine nächste Fahrt nachdenkt, beeinflussen die jüngsten Geschehnisse lippische Türkei-Urlauber offenbar nur wenig. Mehrere Reisebüros bestätigten dies im Gespräch mit der LZ. „Die Kunden sind größtenteils entspannt. Wir haben bisher 15 Umbuchungen", sagt Peter Lüssem, Inhaber von „Expitur-Reisen" in Lemgo. Er habe nach den Ereignissen am Bosporus eigentlich mehr Umbuchungen erwartet. Die türkischen Mittelmeerküste sei bisher von Unruhen verschont geblieben, daher könne er diese Region mit ruhigem Gewissen empfehlen. „Ich würde da auch hinfahren", sagt Lüssem.

Mit dem Wort „Null" antwortet Heike Staude vom TUI-Reisecenter in Detmold auf die Frage, wie viele Lipper ihre Türkeireise bei ihr storniert haben. „Ich bin erstaunt, weil ich mit einem 
großen Andrang gerechnet habe", sagt Heike Staude. Auch im Blomberger Reisebüro Köhne gab es bisher keine Stornierungen. „Die Kunden wollten sich informieren, aber keiner hat umgebucht", sagt Inhaberin Astrid Meier.

Produktion läuft in der Türkei weiter

Die Türkei ist nicht nur ein Urlaubsziel, sondern auch ein Wirtschaftsstandort. Nach Angaben der Industrie- und Handelskammer Lippe zu Detmold unterhalten zwölf heimische Unternehmen Niederlassungen in der Türkei. „Das können Werke für die Produktion, aber auch Vertriebsstandorte sein", sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Axel Martens. Seiner Einschätzung nach hat sich das Interesse lippischer Firmen an Geschäftsbeziehungen mit der Türkei schon lange vor dem Putschwochenende abgekühlt. „Der Mittelstand ist sich nicht sicher, wohin die Entwicklung in dem Land geht. Deswegen herrscht eher Zurückhaltung, was neue Investitionen betrifft", sagt Martens.

„Unsere lokale Organisationseinheit Jowat Atasoy in Istanbul mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist nicht von den Vorkommnissen der letzten Tage betroffen, die Geschäftstätigkeit geht unverändert weiter", erklärt Klaus Kullmann, Mitglied des Vorstands der Jowat SE (Detmold). „Die Türkei ist und bleibt ein wichtiger Absatz- und Wachstumsmarkt für Klebstoffe der Jowat SE."

Knapp 100 Kilometer westlich von Istanbul, in Cerkezköy, hat Coko (Bad Salzuflen) seit 2006 ein Werk zur Produktion von Kunststoffteilen für Haushaltsgeräte mit mehr als 200 Mitarbeitern. Die Lage dort sei ruhig, die Produktion laufe normal, sagt Coko-Geschäftsführer Klaus-Wilhelm Dreskrüger. Phoenix Contact hat im asiatischen Teil von Istanbul eine Vertriebsgesellschaft mit 50 Mitarbeitern. „Diese und ihre Angehörigen sind von dem Putschversuch und den Folgen nicht betroffen", sagte ein Phoenix-
Sprecher gestern.

Kommentar: Wilkommen in der Parallelwelt

von Erol Kamisli

Es ist gut, dass der Putschversuch in der Türkei gescheitert ist. Es ist schlecht, dass Präsident Erdogan jetzt mehr Macht hat als zuvor – auch mit Unterstützung aus Lippe. Viele türkischstämmige Lipper haben ihn nicht nur gewählt, sondern am 
Wochenende für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit à la Erdogan demonstriert. Vergebens hat man die selbst ernannten Demokratie-Hüter gesucht, als im Istanbuler Gezi-Park Demonstranten niedergeknüppelt, im „Kampf gegen den Terror" ganze Städte in Ostanatolien dem Erdboden gleichgemacht wurden und Journalisten wegen angeblich kritischer Berichte auf der Anklagebank landeten.

Für viele Erdogan-Anhänger, darunter auch muslimische Verbände, scheint Demokratie Auslegungssache zu sein. Wenn ihre Rechte bedroht sind, stürmen sie mit Geschrei auf die Straße, wenn die Rechte anderer eingeschränkt werden, sitzen sie schulterzuckend vor den Fernsehern und verfolgen weiter ihre türkischen Sendungen. Doch die vielen türkischstämmigen Demonstranten, die in dritter und vierter Generation in Deutschland leben und gehüllt in roten Flaggen „Allah ist groß" oder „Türkiye, Türkiye" rufen, sind auch ein Beweis für eine teils misslungene Integrationspolitik.

Warum interessieren sich viele türkischstämmige Lipper mehr für die Politik Erdogans als für Kommunalpolitik, die ihren Alltag betrifft? Nur wenige werfen, trotz Wahlrecht, ihre Stimmzettel bei hiesigen Wahlen ein. Doch sie nehmen lange Anreisen zu türkischen Konsulaten auf sich, um für Erdogan zu stimmen und damit die Wahlen in der Türkei zu beeinflussen. Es ist paradox – sie wollen nicht in der Türkei leben, aber beeinflussen mit ihrer Stimmabgabe die dortige Politik. Hier pochen sie zurecht auf Religions- sowie Presse- und Meinungsfreiheit, aber feiern auf der anderen Seite Erdogan, der in der Türkei genau die Rechte abschafft – willkommen in der Parallelwelt.

Information
Aleviten unterstellen Inszenierung

Hat der türkische Staatspräsident Erdogan den Putsch inszeniert? Daran glaubt Bülent Yilmaz, Vorstandsvorsitzender des Alevitischen Kulturvereins Bad Salzuflen und Umgebung. „Erdogan nutzt den Moment, um beim Militär und in der Justiz Säuberungsaktionen durchzuführen", sagt Yilmaz.

Was auf dem Weg zum angestrebten Präsidialsystem noch gefehlt habe, sei nach Erdogans Worten ein „Geschenk Allahs". Er habe es in Form eines dilettantisch inszenierten und zum Scheitern verurteilten Militärputsches erhalten. „Jetzt muss Europa aufpassen, damit die Grundrechte in der Türkei nicht mit Füßen getreten werden", sagt Yilmaz.

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verletzt die Türkei die Religionsfreiheit der Aleviten: Sie würden anders behandelt als die sunnitischen Muslime, so die Straßburger Richter.

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