Kreis Lippe. Wenn Franziska (alle Namen von der Redaktion geändert) die Wahl zwischen einer Banane, einem Apfel und einer Birne hat, dann nimmt sie nicht einfach das, was ihr am besten schmeckt. In ihrem Kopf beginnt der Kalorienrechner zu arbeiten: Die Banane scheidet aus – die hat die meisten Kalorien. Auch die Birne kommt nicht in Frage. Der Apfel, ja, aber bitte nur der mit den wenigsten Kalorien: am besten möglichst klein – besser süß oder besser sauer? Die Kalorientabelle in Franziskas Kopf ist immer da.
Franziska leidet an der Essstörung Anorexia nervosa, ist magersüchtig. Monatelang gab es in Franziskas Kopf nur ein Thema: ihr Gewicht. Jetzt macht sie eine Therapie. Ihr Vater Peter N. will nun in Detmold eine Selbsthilfegruppe für Angehörige ins Leben rufen – um sich mit Anderen über die Krankheit auszutauschen.
Als Franziska 17 Jahre alt ist fangen ihre Gedanken an, sich immer mehr um das Thema Abnehmen zu drehen. Und sie beginnt, immer weiter an Gewicht zu verlieren. Ein schleichender Prozess, in den sie immer tiefer hineinschlittert. Doch sie eifert damit nicht etwa einem gängigen Schönheitsideal nach. Nein. Franziska hasst sich selbst so sehr, dass sie verschwinden will. Sie redet sich ein: „Wenn ich dünn bin, dann bin ich etwas wert." Denn wenn sie schon nicht perfekt ist, dann ist da wenigstens das Gewicht, das sie beeinflussen kann. Ihr Hungergefühl zu unterdrücken, wird für die Schülerin zu einer erbrachten Leistung.
Und: Es fühlt sich gut an, schlank und vor allem untergewichtig zu sein. Ein Kilo geschafft, dann noch ein Kilo und noch eines. Was mit der bewussten Entscheidung anfängt, gewisse Lebensmittel einfach wegzulassen, wird ein Teufelskreis. „Irgendwann sind alle Lebensmittel verboten. Man hat Angst, etwas zu essen. Und irgendwann ist das Hungergefühl einfach weg." Franziska hungert sich so auf unter 50 Kilogramm – bei ihrer Größe deutlich untergewichtig.
Ihr Vater erkennt das veränderte Essverhalten seiner Tochter, doch mehr als sie darauf ansprechen kann er nicht. Er fühlt sich hilflos. Auch Franziskas Freunde stellen die Veränderung fest. Franziska nimmt das als Kompliment – fälschlicherweise. Dass sie immer tiefer in eine der gefährlichsten psychischen Krankheiten schlittert, merkt sie nicht. Sie findet immer neue Wege, gemeinsame Mahlzeiten zu umgehen. „Angeblich hatte ich dann bereits gegessen, hatte keinen Hunger oder fühlte mich unwohl."
Eine kleine Rettung ist das anstehende Abitur. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn mir meine Vernunft nicht gesagt hätte, dass ich zumindest kleine Portionen zu mir nehmen muss, um für die Schule fit zu bleiben." Dann aber kommt der Moment, an dem nichts mehr geht. Sie baut psychisch und physisch ab. Schafft kaum noch die Treppe in den zweiten Stock. Kann sich nicht mehr konzentrieren und fühlt sich von allem überfordert. Sie weiß: „Ich brauche Hilfe."
Ihr Vater ist für sie da und geht mit ihr gemeinsam den Weg aus der Krankheit. Kein einfacher Weg. Ein Weg, der im sozialen Umfeld viel zerstören kann. Denn: „Die Krankheit wirft alles Dagewesene über den Haufen und bestimmt einfach alles", sagt Peter N. Und er weiß: „Bekämpfen kann man die Magersucht nicht. Erst wenn ich sie akzeptieren lerne, dann akzeptiere ich auch meine Tochter." So schlimm die Krankheit ist und so viel sie zerstört. „Sie kann eine Chance sein", meint Peter N. Denn die Ursachen liegen wie bei so vielen psychischen Erkrankungen viel tiefer. Ursachen, die Stück für Stück aufgearbeitet werden müssen.
Heute ist Franziska 19 Jahre alt und studiert Mathe und Geschichte auf Lehramt. Heute – eineinhalb Jahre nach Beginn der Magersucht – ist sie normalgewichtig. In Therapie ist sie aber noch immer. „Denn Psyche und Gewicht – das sind zwei paar Stiefel. Die Psyche kommt nicht so schnell hinterher wie der Körper." Heute kann Franziska an guten Tagen wieder einmal das essen, auf das sie Lust hat. Aber an schlechten Tagen ist sie noch immer viel zu präsent: die Kalorientabelle in ihrem Kopf.
Kommentar: Anorexie - Keine Modekrankheit
von Silke Buhrmester
Untergewichtige Models mit hervorstehenden Knochen prägen das Schönheitsideal unserer Zeit – und gelten vielen jungen Menschen als Vorbilder. Doch wer darin den Grund für den Ausbruch der Krankheit Anorexie sieht, macht es sich entschieden zu einfach. Magersucht ist keine Modekrankheit. Das Schönheitsideal hat dazu geführt, dass der Großteil der Menschen in den westlichen Industrienationen mit seinem Körper nicht zufrieden ist, abnehmen und dauerhaft schlank bleiben will.
Doch Anorexie hat nichts mit Diätenwahn zu tun, es handelt sich um eine tiefe psychische Störung.Die gute Nachricht: Die Krankheit ist weder in den vergangenen Jahren explodiert , noch besonders weit verbreitet. Nur schätzungsweise 0,3 bis 1 Prozent der jungen Frauen bis 25 Jahren leiden tatsächlich daran, bei den Männern sind es rund 0,5 Prozent.
Die zweite gute Nachricht: 40 Prozent der Fälle, manche Quellen sprechen sogar von 60 Prozent, können geheilt werden. Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass Anorexia nervosa immer noch die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate ist. Frühzeitige Hilfe ist deshalb wichtig. Die neu gegründete Selbsthilfegruppe kann dabei unterstützen. Noch wichtiger ist jedoch ein engmaschiges lokales Netz aus Fachmedizinern und Therapeuten.
Hilfe für Betroffene und Angehörige
Erste Anlaufstelle im Kreisgebiet ist laut Dr. Ulrich Preuss, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Lippe in Bad Salzuflen, entweder der Hausarzt oder die Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bad Salzuflen.Nach einer Voruntersuchung werden Notfälle sofort stationär aufgenommen, ansonsten erfolgt eine teilstationäre Behandlung in den zugehörigen Tageskliniken in Detmold, Bielefeld, Minden oder Herford. Auch ambulante Behandlungen sind möglich.
Zudem kann eine Überweisung in eine Spezialklinik für Essstörungen, zum Beispiel nach Bad Oeynhausen, erfolgen. Ansprechpartner sind auch die beiden einzigen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater Klaus Ahlers und Rolf Cailloud in Detmold.
Für Angehörige will Peter N. gemeinsam mit der Selbsthilfe-Kontaktstelle des Kreises eine Selbsthilfegruppe für Essstörungen ins Leben rufen.
Treffen ist zweimal monatlich mittwochs ab 19.30 Uhr, erstmals am 14. Dezember in den Räumen der Selbsthilfe-Kontaktstelle, Schorenstraße 12, in Detmold.
Informationen und Kontaktmöglichkeiten gibt es unter Tel. (05231) 561260 oder per Mail an selbsthilfe-lippe@paritaet-nrw.org.