Menschen mit Behinderung dürfen erstmals wählen

Kreis Lippe. Wer die Teilhabe beispielsweise geistig Behinderter an sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ernst nimmt, könnte annehmen, dass das Wahlrecht dazu gehört. Doch das erlebt Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr zum ersten Mal: Auch Menschen, die in allen Lebensbereichen unter gesetzlicher Betreuung stehen, dürfen an der Landtagswahl teilnehmen – bundesweit eine Premiere.

Doch wer wählen will, muss auch wissen, wie das funktioniert. Darum stellen die Organisatoren beim diesjährigen Aktionstag für Menschen mit Behinderung am Dienstag, 4. April, die Landtagswahlen in den Mittelpunkt. &bdquo;Das ist ein absolutes Novum", sagt Stephanie Kleine von der Beratungsstelle.

"Natürlich machen wir keinen Wahlkampf" Was bedeutet es eigentlich, wählen zu gehen? Wer steht zur Wahl und was wollen die jeweiligen Kandidaten? Um diese Fragen zu beantworten, haben die Organisatoren auch Vertreter der Parteien eingeladen. &bdquo;Natürlich machen wir keinen Wahlkampf. Aber die Gäste sollen die Chance haben, die Politiker zu fragen, für was sie stehen, beispielsweise für die Belange der Behinderten."

So wird jedem Kandidaten ein Eckchen im parlamentarischen Bereich des Kreishauses zur Verfügung stehen, wo er sich den Fragen stellen kann. Für Gehörlose steht wie gewohnt ein Gebärdendolmetscher zur Verfügung. Und als Vertreter der Sehbehinderten wird Sascha Mysliwec die Schablone mitbringen, die eigens für Menschen ohne Sehkraft entwickelt wurde und genau auf die Wahlzettel passt.

Sie wird auf den Wahlzettel gelegt, und anhand der Braille-Schrift lassen sich Kandidaten und Parteien entziffern, bevor der Wähler sein Kreuzchen an der richtigen Stelle macht.

Und was ist mit den Wählern, die gar nicht lesen können? – &bdquo;Sie dürfen eine Person ihres Vertrauens mit in die Wahlkabine nehmen, die ihnen die Informationen vorliest", erklärt Stephanie Kleine. &bdquo;Aber das Kreuzchen müssen sie eigenhändig machen."

Probeabstimmung als Übung Das genaue Prozedere der Landtagswahl wird am Aktionstag nicht nur erklärt, geplant ist auch eine Probeabstimmung mit alten Wahlzetteln, die anschließend vernichtet werden. &bdquo;Dann hat wenigstens jeder mal gesehen, wie das funktioniert." Alle Informationen werden auch in leichter Sprache abgefasst.

Die Organisatoren bauen darauf, dass der Aktionstag Kreise zieht. &bdquo;Wir wollen die Vertreter der Wohnheime und Werkstätten erreichen und erwarten, dass sie als Multiplikatoren ihr Wissen weitergeben", betont Stephanie Kleine.

Erstes Bundesland stetzt Inklusionsgesetz um &bdquo;Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat", steht im Grundgesetz, Artikel 38, Absatz zwei. Doch in Absatz 3 heißt es: &bdquo;Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz." Das Bundeswahlgesetz schließt bisher bestimmte Menschen mit Behinderung vom aktiven sowie passiven Wahlrecht aus.

Das betrifft Personen, die eine &bdquo;Betreuung in allen Angelegenheiten" benötigen, also stark körperbehinderte Menschen mit zusätzlicher geistiger Behinderung, demente oder komatöse Menschen und Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen. Diese Regelung wurde auch bei den Vereinten Nationen massiv kritisiert.

Nach dem neuen NRW-Inklusionsgesetz dürfen nun auch diese Gruppen wählen. &bdquo;Die entsprechende Bestimmung wurde sowohl im Kommunalwahlgesetz als auch im Landtagswahlgesetz gestrichen", schreibt dazu die nordrhein-westfälische Lebenshilfe. &bdquo;Dies entspricht unserer langjährigen Forderung und war angesichts der damit einhergehenden Diskriminierung längst überfällig", sagt der Justiziar der Lebenshilfe NRW, Christoph Esser.

Die Lebenshilfe NRW hofft, dass Nordrhein-Westfalen damit Vorreiter wird, den völkerrechtswidrigen Wahlrechtsausschluss von Menschen, die in allen Angelegenheiten unter Betreuung stehen, abzuschaffen.

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Zu Recht haben die Vereinten Nationen schon vor Jahren auf die Diskriminierung Behinderter mit Betreuung in allen Lebensbereichen hingewiesen: Dass die Betroffenen bisher nicht wählen durften, ist eigentlich unfassbar. Andere Länder wie Großbritannien oder die Niederlande haben diese Form der Diskriminierung längst beendet.

Das Argument der Zweifler, es dürfe nicht wählen, wer nicht geschäftsfähig ist, ist zwar nachvollziehbar. Aber hier geht es nicht um das Unterzeichnen eines Handyvertrages, sondern um die Wahrnehmung eines Menschenrechtes, es geht um den Pfeiler der Demokratie schlechthin.

Barrierefreiheit, leichte Sprache: Sehr wohl haben heute Behinderte die Möglichkeit, sich über Politik einzelner Parteien zu informieren und zu entscheiden, wer ihre Stimme bekommen soll. Dazu ist auch der Aktionstag im Kreishaus am 4. April eine große Hilfe.

Allerdings: Zwar gibt es mittlerweile Schablonen für Sehbehinderte, aber Analphabeten sind nach wie vor auf fremde Hilfe beim Urnengang angewiesen. Meinen wir das mit der Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen wirklich ernst, dann müsste es per Computer möglich sein, die Wähler mit Defiziten per Sprachprogramm durch einen elektronischen Wahlzettel zu lotsen. Aber der erste Schritt – und das ist die gute Nachricht – ist getan.

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