Coronakrise: Verdachtsfälle auf Kindesmisshandlung häufen sich in Lippe

Kreis Lippe. Nicht einmal 30 Tage alt war der kleinste Patient, dessen auffällige Verletzungen in der Kinderschutzambulanz am Klinikum Lippe untersucht wurden. Der kleine Körper wies Spuren auf, die auf Misshandlung hindeuteten. Ob einem Kind tatsächlich Gewalt angetan wird, das versuchen die Ärzte dort herauszufinden. Derzeit macht ihr Leiter Dr. Michael Fleischer besorgniserregende Beobachtungen. Denn seit der Zuspitzung der Coronakrise häufen sich die Verdachtsfälle.

Mehr als 50 kleine Patienten sind laut Fleischer in Detmold bisher in enger Zusammenarbeit mit den lippischen Jugendämtern untersucht worden. Durchschnittlich gebe es einen Fall pro Woche, für den sich die zuständigen Ärzte viel Zeit nehmen. Doch momentan sei eben alles etwas anders. "In den letzten zwei Wochen hatten wir schon vier Fälle", sagt der Oberarzt der Kinderklinik. Fleischer warnt davor, sich von den nackten Zahlen, die im ersten Moment vielleicht niedrig erscheinen, täuschen zu lassen. "Wenn sich die Zahlen in so kurzer Zeit vervierfachen, ist das ein Grund zur Sorge", sagt er. Daher müsse verstärkt auf die Situation der Kinder geachtet werden.

Doch wie können Misshandlungen überhaupt als solche entlarvt werden? "Es geht darum, Verletzungen nach ihrer möglichen Ursache zu beurteilen", sagt der Mediziner. Blaue Flecken am Knie seien typische Wunden, die sich Kinder oft genug beim Spielen und Anecken holen könnten. Eine ungewöhnliche Stelle für Hämatome seien dagegen Rücken oder Hinterkopf. Hier sei es wahrscheinlicher, dass Verletzungen durch Dritte hinzugefügt wurden. "Auffällig ist auch, wenn Kinder, die noch gar nicht mobil sind, blaue Flecken aufweisen", erklärt Fleischer.

Ein weiteres Indiz für mögliche Misshandlung seien starke Verbrühungen. "Jeder kennt das: Wer sich versehentlich verbrennt, zieht die Hand reflexartig weg", sagt der Mediziner. Dabei entstünden eher spritzerförmige Verbrennungen. Doch breite sich die Verletzung wie ein Handschuh über die Haut aus, müsse dies genauer betrachtet werden. Die Ärzte der Kinderschutzambulanz versuchen dann zu klären, ob den Kindern möglicherweise Gewalt angetan werde. Initiiert würden die Termine in erster Linie von Jugendämtern oder nach Anzeigen aus den Kindergärten. "Es geht nicht darum, die Kinder wegzunehmen" sagt Fleischer. "Viele Familien brauchen einfach Unterstützung." Ein Drittel der Verdachtsfälle könnten zudem entkräftet werden. Andere würden auch mit überforderten Familien zusammenhängen. Gerade in der momentanen Situation können Konflikte zunehmen.

Ansprüche anpassen "Eltern neigen dazu, Fehler zu machen." Viele kritische Konfliktsituationen, die derzeit innerhalb der Familien brodeln, seien daher aufgestaute Momentausbrüche - bedingt durch die derzeitige Lage und das Aufeinanderhocken. "Manchmal hilft es einfach, die Szenerie zu verlassen, um wieder einen kühlen Kopf zu bekommen", sagt Fleischer. Eltern müssten sich auch im Klaren darüber sein, wie schwierig die Lage auch für den Nachwuchs sei. "Meistens passt unsere Anspruchshaltung nicht zu dem, was Kinder in dem Alter bewerkstelligen können." Ein dreijähriges Kind sei kognitiv gar nicht dazu in der Lage, allein sein Zimmer aufzuräumen. "Wenn sich die Eltern dessen bewusst sind und Kinder an dieser Stelle mitnehmen, fallen schon einige Konfliktpunkte weg", sagt Fleischer. Wichtig sei, trotz des Ausnahmezustands Routinen und Rituale einzuhalten. "Und wenn es die Gute-Nacht-Geschichte ist."

Doch vielen Kindern könne in momentan nur schwer geholfen werden, da viele soziale Kontrollen durch Kontaktsperre und Kindergarten sowie Schulschließungen eben weggefallen seien. Die Arbeit der Jugendämter sei daher umso wichtiger, findet Fleischer. "Auch wenn die Außenwahrnehmung oft eine Negative ist. In erster Linie geht es darum, den Kindern zu helfen." Gerade in Zeiten, in denen sich der größte Teil des Leben hinter verschlossenen Türen abspiele.

Die Kinderschutzambulanz Seit November 2018 gibt es die Kinderschutzambulanz am Klinikum Lippe. Nach Bekanntwerden des Missbrauchsfalls Lügde im vergangenen Jahr hatte der Kreis noch einmal verstärkt in die Einrichtung investiert, um den Kinderschutz zu verbessern. Die Vorstellung in der Ambulanz läuft in der Regel nach Terminabsprache über die Jugendämter ab. Diese können eine Untersuchung auch anordnen. Das betroffene Kind komme dann in Begleitung einer Bezugsperson. Für die Anamnese wird viel Zeit eingeplant und misshandlungsverdächtige Verletzungen werden auch fotografisch festgehalten. "Dieses Vorgehen wird den Kinder erklärt", sagt Fleischer.

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