Interview: Wie Sterbehilfe Leben retten kann

Kreis Lippe. In diesen Tagen hätte die Komödie &bdquo;Ein großer Aufbruch" am Landestheater Detmold Premiere gehabt – coronabedingt wurde sie ausgesetzt. In dem Stück geht es um einen schwerkranken Patriarchen, der den engsten Familien- und Freundeskreis zusammenruft, um mitzuteilen, dass er seinem Leben ein Ende setzen will. Theaterarzt Dr. Alexander Graudenz hat vier Jahrzehnte als Hausarzt in Detmold praktiziert. Er hat gelegentlich Patienten erlebt, die es offen aussprachen, dass sie nicht mehr – nicht mehr so leben wollten. Wie geht ein Mediziner damit um? &bdquo;Herr Doktor, ich möchte eigentlich gar nicht mehr." – Solche Sätze hören Sie immer wieder. Wie reagieren Sie darauf? Dr. Alexander Graudenz: Oberstes Gebot ärztlicher Tätigkeit ist und bleibt es, Leben zu erhalten. Jedoch: Ein Mensch ist autonom im Leben und auch im Sterben und hat das Recht zu gehen und auch dabei begleitet zu werden. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil vom Februar festgestellt, dass das in Deutschland geltende Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe gegen das Grundgesetz verstößt. Was bedeutet das für die behandelnden Ärzte? Dr. Graudenz: Die Bedingungen für einen Assistierten Suizid zu klären und abzuwägen, erfordert allergrößte Sorgfalt. Denn einen Suizid kann sich nicht nur ein schwerkranker, unerträglich leidender Patient, sondern jeder, auch ein Gesunder, wünschen. Letztlich steht allerdings wohl hinter fast jedem Suizidwunsch &bdquo;Ich will nicht mehr leben" vielmehr die Überzeugung &bdquo;Ich will so nicht mehr leben". Wie kann man herausfinden, ob ein Sterbewunsch wirklich reiflich überlegt ist? Dr. Graudenz: Man wird prüfen müssen, ob nicht zum Beispiel eine Erkrankung, eine Depression oder ein akutes Ereignis hinter diesem Wunsch stecken und muss erforschen: Warum willst Du das? Letzteres klingt nach einer Aufgabe für einen Vertrauten. Dr. Graudenz: Das kann eigentlich nur ein langjähriger Begleiter sein, der diesen Menschen, seine sozialen Umstände und seine Verflechtungen kennt und am ehesten einschätzen kann, wie es um seine Entscheidungsfähigkeit steht. Zum Beispiel der Hausarzt. Aber kein Arzt wird leichtfertig eine Entscheidung treffen. Hören Hausärzte den Satz: &bdquo;Herr Doktor, ich möchte eigentlich gar nicht mehr" müssen sie natürlich nachfragen: Wie ernst ist das gemeint? Und unter welchen konkreten Umständen will ein Mensch nicht mehr weiterleben? Oder ist alles im Grunde nur ein Appell, hinter dem ganz andere Themen stehen? Die Antworten herauszufinden und gleichzeitig die positiven Aspekte anzusprechen und vielleicht sogar zu aktivieren, sollte Aufgabe des Arztes sein. Sind Ärzte aus Ihrer Sicht auf diese Aufgabe hinreichend gut vorbereitet? Dr. Graudenz: Zum Rüstzeug für den Umgang mit solchen Grenzsituationen gehört bereits an den Universitäten eine adäquate Ethikausbildung. Zudem wären Supervision, Qualitätszirkel und Fallbesprechungen auch auf diesem Gebiet wünschenswert, ja notwendig. Darüber hinaus schwebt mir für Ärztinnen und Ärzte in Westfalen-Lippe eine Möglichkeit vor, sich in ethischen und juristischen Fragen Rat zu holen – dezentral, niedrigschwellig und schnell erreichbar. Der Bedarf ist nach meiner Einschätzung sehr groß. Der Arzt als Suizidhelfer? Dr. Graudenz: Genauso wenig wie der Suizid in einer Gesellschaft Normalität bekommen oder gar sozial erwartet werden darf, dürfen Ärzte in dieser Frage unter Druck gesetzt werden, weder in Richtung Durchführung noch in Richtung Verweigerung von Suizid-Beihilfe. Beides muss für Ärzte eine freiwillige Entscheidung bleiben. Wir sprechen hier über die Hilfe für einen zum Suizid bereiten, einsichtsfähigen Menschen, die an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Das sind zum Beispiel Aufklärung, Beratung, Ausschluss von psychischen Erkrankungen, Bedenkzeiten und die Feststellung wirklicher Autonomie. Können Sie hier im Bereich der Palliativmedizin auf vorhandenen Strukturen aufbauen? Dr. Graudenz: In Westfalen-Lippe gibt es in jedem Kreis, so auch in Lippe, Palliativmedizinische Konsiliardienste, die eine immens große Expertise aufweisen und Kranken in der letzten Phase ihres Lebens mit Rat und Tat zur Seite stehen. In In Lippe werden pro Jahr etwa 1200 Sterbende begleitet. Was entgegnen Sie Kritikern, die Suizidhilfe als unethisch ablehnen? Dr. Graudenz: Menschen brauchen die Gewissheit, im Sterben nicht allein zu sein und jemand fachlich Qualifiziertes an ihrer Seite zu haben. Die Zusage, einem Menschen beim Suizid zu helfen, kann so hoffentlich dessen Ausführung verhindern, denn das muss oberstes Ziel sein. Die Angst, die Selbsttötung ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr selbst vollziehen zu können, kann zu vorschnellen Handlungen mit schlimmen Folgen führen, wie ich es selbst erlebt habe. Das Versprechen eines Arztes, seinen Patienten sogar bis hin zur Selbsttötung zu begleiten, ist hingegen letztlich ein Lebensversprechen. Grundlage des Interviews ist ein Artikel im Westfälischen Ärzteblatt (10/2020) von Klaus Dercks, überarbeitet von Silke Buhrmester.

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