Kreis Lippe. Der Kessel war riesig. So groß, dass ich als Kind immer vorhatte, mich heimlich darin zu verstecken. Wenn meine Oma Gertrud Lebkuchen gebacken hat, dann war das kein einfaches Keksebacken. Nein, nein. Kinderfinger waren hier nicht erwünscht. Das Ritual war nicht nur genau durchgetaktet, sondern kompliziert und auch nicht ungefährlich. Zeit, selbst einen Versuch zu wagen und die Kindheitserinnerungen in die eigene Küche zu holen.
Leider vergaß Oma beim Backen, dass ihr Pfefferkuchenrezept ein ganzes ostpreußisches Dorf versorgen konnte – sie aber bisweilen nur noch ein paar verstreute Familienmitglieder damit glücklich machen konnte. Denn ihre Flucht aus Königsberg war schon viele Jahre her und hier in Detmold wollte wirklich niemand drei Monate lang von dem Gebäck zehren. Das hat Oma aber nie davon abgehalten, gute sechs Kilo Teig anzurühren.
Hüftgold in schönster Form
Ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, als ich ihr das erste Mal so wirklich dabei zugeschaut habe, wie sie Zuckerrübensirup und Honig in einen Emaille-Topf gab – abgemessen wurde hier nichts, die richtige Menge hatte Oma nach den vielen Jahren Übung im Handgelenk. Dann ging es zu ihrem alten Gasherd. Während die beiden klebrigen Süßungsmittel sich brodelnd vereinten, schüttete Oma auch noch etwas Zucker dazu. Ein paradiesischer Trog, der da blubberte. Pures Hüftgold in seiner schönsten Form.
Allerdings auch brandgefährlich. Schließlich erreicht Zucker eine ganz andere Temperatur, als es etwa kochendes Wasser tun würde. Bis zu 185 Grad kann das Gebräu erreichen – und Zuckerverbrennungen sind wirklich kein Spaß. Kein Wunder also, dass Oma mich einen großen Bogen um den Herd machen ließ, während sie noch einen guten Riegel Butter in die Mischung löffelte. Dabei hätte ich doch so gerne in den Topf gelinst.
Während also alles Süße langsam flüssig wurde, mischte Oma die trockenen Zutaten zusammen. Mehl, etwas Backkakao, eine Prise Salz („an alles Süße gehört was Salziges und umgekehrt”) und gleich mehrere Tütchen eines Gewürzes, das aus Omas Küche plötzlich eine Weihnachtsbäckerei machte. Auf einmal duftete es nicht nur nach dem Zuckerwatte-Aroma, dass der Rübensirup verströmte, sondern nach Gewürzen aus Tausend und einer Nacht. Für einen Moment kribbelte mir die Nase, wenn Oma das Pulver in den Kessel schüttete und mit den anderen Zutaten vermischte. Ich erinnere mich noch genau an die Verpackung. Rot und weiß mit ein bisschen gelb kam das Papiertütchen daher. Darauf zu sehen ein alter Schriftzug – „Hayma Neunerlei" – und ein Pfefferkuchenmännchen.
Stiefelchen, Sternchen und Herzen
Dann ging es auch schon weiter. Ein ganzer Karton Eier wanderte in den Topf. Und schließlich wurde es Zeit für den Auftritt des Zuckergemischs. Das war allerdings auch der Punkt, an dem Oma Hilfe benötigte. Was früher mein Opa erledigt hat, musste jetzt mein Vater über sich ergehen lassen. „Aaaaandyyy”, rief Oma durch den Flur, bis mein Vater sich erbarmte und die knatschenden Holztreppen herunterpolterte.
Den uralten riesigen Kochlöffel, der jetzt gebraucht wurde, hatte Oma schon herausgesucht. Er war mindestens so lang wie mein Kinderarm und sah aus, als würde man damit normalerweise einen großen Topf voll Zaubertrank mischen. Während mein Vater mit dem Löffel im Kessel herumrührte, goss Oma nach und nach die Zuckermischung dazu. Ein klebriger Spaß, der ganz schön in die Arme geht.
Schließlich – und das war das Schlimmste für mich – wanderte der Kessel mit dem Teig in den Keller. Mit einem Küchentuch abgedeckt, sollte er hier nun ruhen. Und zwar nicht, wie man es heute vielleicht von Mürbe- oder Hefeteigen kennt, für ein paar Stunden, nein, bis zu vier Wochen stand der Teig im Keller! Wenn wir Kinder lange genug bettelten, ging Oma schon vorher in den Keller und brach ein Stück Teig aus dem Berg heraus, den sie uns dann ausrollen und zu kleinen Stiefelchen, Sternchen und Herzen ausstechen ließ. Aber der eigentliche Pfefferkuchen musste warten.
Erst Tage später wurde der dicke Klumpen aus dem Topf geschüttet, gewalzt und gedrückt, bis ein Rechteck entstand. Mandeln markierten die Stücke, die später geschnitten werden sollten und dann kam mit einem feinen Pinsel eine dünne Lage frisch gebrühter schwarzer Kaffee über das ganze Blech. Die üppigen Dosen voll mit Pfefferkuchen bedeckten die gesamte Breite der Anrichte im Wohnzimmer meiner Oma. Jeder, der in den nächsten Wochen zu Besuch kam, wurde mit der Köstlichkeit aus ihrer Heimat eingedeckt – ob er wollte oder nicht.
25 Jahre später weckt der Geruch des Sirup und der Gewürze, der Geschmack der fertigen Kekse immer noch all diese Erinnerungen an Kindheit und Zuhause. Aber ein Problem gibt es: Das Rezept ist verschütt’.
Ein Film über Ostpreußen gibt Aufschluss. Der Teig wurde schon im späten Sommer hergestellt, wenn das Mehl frisch geerntet und die Eier frisch gelegt sind. In großen Holzkisten durfte er im Keller reifen, bis dann im Winter die ganze Familie zum Backtag antrat. Nach vielen Telefonaten habe ich ein Rezept in der Hand, das mutmaßlich meine Oma benutzt haben soll. Und siehe da: Schon bald blubbert der Sirup und der Duft nach Weihnachten füllt den Raum.

Psssst, dieses Rezept ist geheim
Was macht einen richtig guten Pfefferkuchen aus? Er sollte luftig und ein bisschen klebrig sein, außen leicht knackig und innen weich und vor allem – und das ist das Allerwichtigste – müssen die Gewürze stimmen. Wer in der Familientradition von Schlesiern und Ostpreußen backt, wird in seinen Rezepten mit großer Sicherheit Gewürzmischungen der Firmen „Hayma" oder „Staesz" verwenden.
Die Firma Hayma wurde 1982 von Staesz aufgekauft und für einige Jahre wurden beide Gewürze aus der gleichen Produktion heraus vertrieben. Heute gibt es nur noch das Pfefferkuchengewürz von Staesz zu kaufen – mit Glück. Denn die Gewürzmühle Nesse, die die Mischung produzierte, ist wiederum von einem internationalen Hersteller aufgekauft worden. Wer lange sucht, findet Restbestände des Gewürzes in Reformhäusern, Apotheken oder Onlineshops. Es kann aber auch eine eigene Mischung hergestellt werden. Vor der Zutat Hirschhornsalz muss kein Vegetarier zusammenzucken. Früher wurde das Backtriebmittel zwar tatsächlich aus tierischen Hörnern geraspelt, heute besteht es aus einer Mischung der Mineralien Ammoniumhydrogencarbonat, Ammoniumcarbonat und Ammoniumcarbamat und wird künstlich hergestellt.
Für den Teig:
- 250g Honig
- 250g Zuckerrübensirup
- 500g Zucker
- 200g Butter
- 1500g Mehl
- 200g gemahlene Mandeln oder Haselnüsse
- 2 EL Kakao
- eine Prise Salz
- 6 Eier
- je ein Pck. Hirschhornsalz und Pottasche
- 2 Pck. oder 30 Gramm Pfefferkuchengewürz (siehe Rezept unten für eine eigene Mischung)
- etwas starken gebrühten Kaffee zum Bestreichen
- 200g ganze, blanchierte Mandeln
Für das Pfefferkuchen-Neunerlei-Gewürz:
- 8 TL Zimt
- 7 TL Piment
- 3 TL Ingwer
- 2 TL Koriander
- 2 TL Anis
- 1 TL Kardamom
- 1 TL Muskat
- 1 TL Weißer Pfeffer
- 1 TL Zitronenschale
Alle Gewürze getrocknet und gemahlen verwenden. 15 Gramm Gewürz entsprechen einem Päckchen.
So geht’s: Zucker, Sirup, Honig und Butter in einem Topf auf kleiner Flamme erwärmen, so dass ein flüssiger Sirup entsteht. Mehl, Kakao und Salz mischen, eine Kuhle bilden und die Eier dazugeben. Hirschhornsalz und Pottasche mit einem Schluck kalten Wassers auflösen und zu den Eiern geben. Unter ständigem Rühren nach und nach den Sirup hinzufügen und alles gut vermischen. Den Teig gut abdecken und über Nacht ruhen lassen – so lange sollte mindestens gewartet werden, damit die Triebmittel arbeiten können.
Den Teig zwei Stunden bei Zimmertemperatur stehen lassen, gut auf einer bemehlten Fläche durchkneten und daumendick ausrollen. Blanchierte Mandeln hineindrücken und mit dem Kaffee bestreichen. Auf einem Blech bei 160 Grad Umluft für etwa 30 Minuten backen. Nicht erschrecken, der Kuchen geht beim Backen in die Höhe, sackt aber später wieder etwas ab. Abkühlen lassen und in Rechtecke schneiden. Wer möchte, kann den Pfefferkuchen mit Zuckerguss bestreichen.

Flucht aus Ostpreußen
Bombenangriffe auf Königsberg, sowjetische Armeen, die das Land einnahmen und die Zerstörung von Nemmersdorf sorgten im Oktober 1944 dafür, dass etliche Menschen ihr Zuhause – und viele auch ihr Leben – verloren. Überstürzt flüchteten die Überlebenden. Eine Evakuierung von offizieller Seite gab es kaum. Die Flüchtenden machten sich mit Kutschen oder zu Fuß auf den Weg, kamen aber auch wegen des Winters nur langsam voran. Zuweilen wurden die Trecks auch von der Roten Armee eingeholt.
Noch schlimmer erwischte es die, die dachten, mit einem Platz auf einem Schiff das große Los gezogen zu haben. Doch allein bei den Untergängen der „Wilhelm Gustloff", der „Steuben" und der „Goya" kamen Tausende ums Leben, allein an Bord der „Gustloff" waren vermutlich mehr als 10.000 Passagiere, es konnten aber nur etwas mehr als 1000 gerettet werden. „Von den 2,5 Millionen Ostpreußen verloren durch Krieg, Flucht und Vertreibung mehr als ein Viertel ihr Leben", erklärt die Landsmannschaft Ostpreußen in einem Video. Insgesamt waren es zwölf Millionen Menschen, die aus deutschen Ostgebieten nach Westen strömten. Zweieinhalb Millionen siedelten sich in Nordrhein-Westfalen an, viele von ihnen in Lippe.
In der „Geschichte der Stadt Detmold" schreibt der ehemalige Bürgermeister Dr. Richard Moes über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: „Die Einwohnerzahl stieg nach dem Zusammenbruch plötzlich sehr stark an. 1946 konnten schon 26.700 Einwohner gezählt werden, von denen die normal ansässige Bevölkerung nur 21.700 ausmachte. [...] 1950 war dann die Bevölkerung auf über 30.000 Seelen gewachsen." Der Anteil an Flüchtlingen und Ostvertriebenen habe zu der Zeit 19 Prozent ausgemacht.
Nach dem Krieg wurde Ostpreußen neubesiedelt, heute ist die Region dreigeteilt: Das Memelland ist Teil Litauens, das südliche Ostpreußen ist polnisches Staatsgebiet und das dazwischenliegende Königsberger Gebiet ist eine russische Exklave im Gebiet der EU, deren Außengrenze mitten durch das historische Ostpreußen verläuft.
Einen kurzen Film über die Geschichte Ostpreußens gibt es unter www.ostpreussen.de
Transparenzhinweis: Dieser Artikel wurde erstmals im Dezember 2021 veröffentlicht.