Lippische Polizei stellt sich bei der Vermisstensuche neu auf

Kreis Lippe. Etwa 450 Vermisstenfälle hat die Polizei in Lippe allein 2021 bearbeitet. Am Ende dieses Jahres werden es sogar noch mehr sein, schätzt Erster Kriminalhauptkommissar Heiko Wind, Leiter des neu aufgestellten Kriminalkommissariats. Um noch effizienter zu werden, hat die lippische Polizei den Bereich der Vermisstensuche jetzt gebündelt. Was hinter den Kulissen passiert.

Manchmal ist es nur eine kleine Komponente, die nicht passt und die Ermittler aufhorchen lässt. Ein tutender Telefonhörer, der völlig achtlos neben dem Apparat auf dem Wohnzimmertisch liegengeblieben ist, bevor ein sonst verlässlicher Senior mit dem Auto aus der Stadt stürmt. Eine schwangere Frau, die kurz nach der Hochzeit verschwindet und ihren Mutterpass zurücklässt... Die beschriebenen Situationen stammen aus zwei realen Vermisstenfällen aus Lippe - beide sind Ausnahmen. Nur selten steckt hinter einer vermissten Personen in Lippe tatsächlich ein Verbrechen, sagt Polizeisprecherin Dr. Laura Merks.

Vor zwei Monaten erst haben falsche Polizisten unter einem Vorwand 40.000 Euro von einem potenziellen Opfer gefordert, die andere Situation betrifft einen Mord, der schon mehr als 20 Jahre zurückliegt. Meistens aber verschwinden Personen gar freiwillig, sagt die Statistik. "Gerade bei Erwachsenen ist das sowieso immer schwierig zu bewerten", sagt Merks. Jede volljährige Person habe das Recht, sich selbstbestimmt, egal wo, aufzuhalten und somit auch zu verschwinden. Auch wenn das Umfeld nicht Bescheid wisse.

Jährlich gibt es hunderte Vermisstenfälle in Lippe Die lippische Polizei bearbeitet trotz aller Sonderheiten hunderte Vermisstenfälle im Jahr, meistens geht es dabei um Jugendliche oder auch demente Personen, die orientierungslos umherirren. Teilweise geht es um komplexere Hintergründe, Ermittler müssen daher besonders aufmerksam vorgehen, um die Einzelfälle abzuschätzen. Um die Kräfte zu bündeln, hat das sich das zuständige Kommissariat jetzt sich ganz neu aufgestellt.

Seit September bearbeitet ein sechsköpfiges Team alle einlaufenden Vermisstensachen nur noch zentral von der Lemgoer Polizeiwache aus, vorher saßen die zuständigen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter quer über Lippe verstreut. Die neue Struktur soll die Kompetenzen bündeln und zeitgleich die vorhandenen Ressourcen schonen. Etwa 450 Vermisstenfälle sind in Lippe allein im Jahr 2021 bearbeitet worden, sagt Erster Kriminalhauptkommissar Heiko Wind (53), der die neugebildete Einheit in Lemgo leitet. In der normalen Kriminalitätsstatistik taucht diese Zahl laut Polizei gar nicht auf, schließlich geht es ja in den wenigsten um Straftaten.

Im Gegenteil. "Bei ungefähr 380 von diesen 450 Fällen sind die Vermissten unter 21 Jahre alt ", schätzt Heiko Wind. Einer der Gründe, weshalb die Fälle jetzt von Lemgo aus koordiniert werden. Denn hier ist ohnehin das Dezernat für Jugendkriminalität ansässig. Oft genug hätten die Beamtinnen und Beamten mit jugendlichen Ausreißern zu tun, die schon im Vorfeld polizeilich bekannt seien, gelegentlich "Scheiße bauten" oder gar regelmäßig über länge Zeit nicht in ihre Wohngruppen zurückkehrten. "Das soll nicht despektierlich klingen, aber wir kennen unsere Pappenheimer", sagt Heiko Wind. Kleinreden wolle er solche Fälle aber auf keinen Fall.

Welche Gründe stecken hinter dem Verschwinden? Obwohl die Suche nach Ausreißern zum Tagesgeschäft gehöre, steckten oft genug tiefer gehende Gründe, wie etwa häusliche Gewalt, dahinter. "Wir tun nichts einfach so ab, da muss man die Balance finden", sagt Heiko Wind. Das Team arbeite daher eng mit den zuständigen Jugendämtern zusammen, seit Bekanntwerden des Missbrauchsfalls Lügde 2019 sogar noch intensiver als zuvor. Kindeswohlgefährdung werde inzwischen großgeschrieben, solche Fehler wie damals könne sich keiner erlauben. "Wir schicken niemanden einfach wieder nach Hause, der dort bewusst weg ist", sagt der Kommissariatsleiter. Jeder Fall müsse intensiv geprüft werden. Eine Pauschalantwort in solchen Situationen gebe es nicht.

Etwa zwei bis drei Fälle landen laut Wind durchschnittlich pro Woche auf den Schreibtischen der lippischen Polizei. Da vermisste Personen durch die neue Struktur jetzt auch einfach über das Internet gemeldet werden könnten, gebe es deutlich mehr davon. Heiko Wind rechnet daher Ende des Jahres mit einer höheren Fallzahl, vielleicht sind es dann in etwa 500. "Die Hemmschwelle ist möglicherweise niedriger, wenn jemand dafür nicht direkt auf die Wache fahren muss", schätzt er. Das Internet und soziale Netzwerke seien sowieso für seine Arbeit manchmal Fluch und Segen zugleich.

"Internetermittlungen gestalten sich inzwischen relativ erkenntnisreich, was der Polizei in diesen Fahndungslagen natürlich hilft", sagt Heiko Wind. Beispielsweise, wenn vermisste Personen ihre sozialen Netzwerke trotz des Verschwindens weiter fütterten oder überhaupt mit der Außenwelt kommunizierten. Nicht zuletzt müsse man bei einem öffentlichen Fahndungsaufruf nicht mehr auf die gedruckte Zeitung am nächsten Tag warten. Die Bereitschaft, entsprechende Beiträge zu teilen, sei zudem ungebrochen groß, ergänzt die Polizeisprecherin. "Und jede Reaktion, jedes Teilen hilft uns weiter, das ist tatsächlich so."

Andererseits mache der Alleingang von verzweifelten Angehörigen die Arbeit der Polizei auch manchmal schwerer. "Wir wägen genau ab, welche Einzelheiten wir über eine Person preisgeben", sagt Laura Merks. Manche privaten Dinge gehörten einfach nicht in eine Öffentlichkeitsfahndung und schon gar nicht unkontrolliert ins Internet. "Daraus kann sich schnell eine Eigendynamik entwickeln." Wer "private Fahndungen" ins Netz stellt oder diese teilt, mache sich zudem strafbar. Natürlich könne die Polizei aber durchaus verstehen, in welchen Ausnahmesituationen sich überforderte Angehörige befänden. "Wir schätzen im Gespräch auch ab, wer psychologisch unterstützt werden sollte", sagt Heiko Wind.

Ein Spiel mit der Zeit Letztendlich müsse abhängig vom Einzellfall schnell und sicher eingeschätzt werden: Gilt die betroffene Person wirklich als vermisst oder nicht? Diesen zentralen Punkt arbeiteten die erfahrenen Sachbearbeiterinnen und Sacharbeiter anhand eines Fragenkatalogs heraus. Am entscheidendsten helfe dabei, die Situation genau einzuordnen: Warum hat derjenige/diejenige seinen/ihren bekannten Lebensbereich verlassen? Gibt es Auffälligkeiten? Um das herauszufinden, versuche die Polizei mit viel Fingerspitzengefühl Einzelheiten herauszufiltern. Dabei helfe vor allem, Kontaktpersonen zu befragen. "Wenn klar wird, es ist ernst, kann sich hier schnell eine Art Taskforce bilden", erklärt Heiko Wind.

Die Intensität der Ermittlungen sei dann gar mit einer kleinen Mordkommission vergleichbar. Bei akuten Vermisstenfällen, gerade wenn die Umstände auf das Schlimmste hindeuteten, beschäftigte sich das Kommissariat mit nichts anderem mehr. Der Einsatz laufe dann je nach Ermittlungsstand abteilungsübergreifend ab - innerhalb kürzester Zeit könnten Hundeführer, Hundertschaften oder ein Hubschrauber unterstützen. Genauso werde die Rettungsstaffel der Feuerwehr mit eingebunden. Nicht immer gehen solche Fälle dann gut aus, muss der erfahrene Ermittler einräumen, auch das gehöre zur bitteren und schmerzhaften Realität des Jobs. Doch die meisten kämen glücklicherweise wohlbehalten zurück.

Langzeitvermisste in Lippe Vermisst ist nicht gleich vermisst. Bei Personen, die auch nach zwei Jahren nicht wieder aufgetaucht sind, handelt es sich um sogenannte Langzeitvermisste. "Die Akte ist so gesehen zwar nicht geschlossen, es gibt aber auch keine aktuellen Anhaltspunkte mehr", erklärt Heiko Wind. In Lippe stünden auf der entsprechenden Liste für Langzeitvermisste aktuell zwölf Menschen. "Wir haben bei der Umstrukturierung alle einmal drüber geschaut, ob uns neue Ansätze einfallen", sagt Wind.

Weitergekommen ist die neue Einheit bei diesen speziellen Fällen nicht. Über Details will die Polizei hier nicht sprechen, schließlich gilt auch hier der Persönlichkeitsschutz. Dazu könne man sich bei einigen Fällen eben nicht sicher sein, ob die Menschen nicht vielleicht doch freiwillig verschwunden sind, sagt Dr. Laura Merks.

Bei einem Fall zumindest handelt es sich ganz klar um eine Straftat. Er liegt mehr als 20 Jahre zurück und hat das Gericht schon mit einem Mordprozess beschäftigt, erinnert sich Heiko Wind. Es geht um Bianca W., eine schwangere Frau aus Augustdorf, die im Jahr 2000 ein paar Tage nach ihrer Hochzeit verschwand und nie zurückkehrte. "Erst Jahre später ( Anmerk . der Redaktion: 2005) konnte ihr Ehemann überführt und wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden werden", sagt Wind.

Der damals als "Augustdorfer Mord ohne Leiche" betitelte Fall machte deutschlandweit Schlagzeilen. "Obwohl es ein Urteil zu dem Fall gibt, gilt sie bei uns immer noch als vermisst." Auch wenn sich alle Beteiligten sicher sind, dass Bianca W. tot ist, ihre Leiche sei niemals gefunden worden. Deshalb bliebe ihre Akte weiter geöffnet.

Unter den zwölf Langzeitvermissten sei auch ein Mann, der seit den 90ern vermisst wird und inzwischen weit über 100 Jahre alt sein müsste. Die Wahrscheinlichkeit, den Senior noch lebend oder überhaupt zu finden, sei daher äußerst gering. "Er wurde inzwischen auch in Lügde für tot erklärt", sagt Wind. Doch gerade wenn man unbekannte Tote auffinde, sei eben der erste Schritt, noch offene Vermisstenfälle abzugleichen. "Dieses Ausschlussverfahren kann die Ermittlungen durchaus voranbringen." Und manchmal klärt sich so Jahre später ein Verschwinden auf.

Von Eltern entführt Es gibt wohl nichts Schlimmeres als ein verschwundenes Kind. Auch solche Fälle beschäftigen die Kreispolizeibehörde in Lippe. In der Regel steckten hinter diesen Fällen allerdings oft Sorgerechtsstreitigkeiten, erklärt Polizeisprecherin Dr. Laura Merks. Meistens entführte ein Elternteil das eigene Kind dabei ins Ausland. "Meist geht es dann ins nichteuropäische Ausland, wo wir kaum eine Handhabe haben", sagt Heiko Wind. Sogenannte Kindesentziehung falle als Straftat jedoch nicht in die klassischen Vermisstenfälle und werde demnach von einem anderen Kommissariat bearbeitet.

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