Mädchen nach Zahn-OP in Wachkoma: Versicherung zahlt vorab 350.000 Euro

Kreis Lippe. Kein Gerichtsverfahren der Welt kann je wiedergutmachen, was Ende September 2017 in einer Detmolder Zahnarztpraxis passiert ist. Ein damals siebenjähriges Mädchen aus Bad Salzuflen erlitt dort bei einer kariesbedingten Milchzahn-OP einen irreversiblen Hirnschaden. Sie wurde falsch intubiert und über mehrere Minuten nicht mit Sauerstoff versorgt. Nun geht es darum, der betroffenen Familie das Leben soweit wie möglich zu erleichtern. Ein Etappenziel ist erreicht.

Der Weg bis dahin war steinig. Vor etwa einem Jahr stellte das Landgericht Detmold das Strafverfahren gegen den beschuldigten Anästhesisten aus Bielefeld wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen eine Zahlung von 15.000 Euro an die betroffene Familie ein. Der Bielefelder hatte das Rohrstück, mit dem das Mädchen während der OP beatmet werden sollte, nicht in die Lunge, sondern in die Speiseröhre eingeführt. Mit dem Beschluss hatte das Strafgericht seine Arbeit getan, nun musste ein zivilrechtliches Verfahren klären, ob den Eltern die geforderten 500.000 Euro Schadensersatz zustehen.

Versicherung lenkt überraschend ein Rechtsanwalt Marc Melzer Paderborn, der als Fachanwalt für Medizinrecht die Familie vertritt, hatte damit gerechnet, einen mehrjährigen Zivilstreit ausfechten zu müssen. "Normalerweise knicken Versicherung gerade in solch schweren Fällen nicht ein", erklärt Melzer. Viele ließen sich eher verurteilen und gingen mit dem Sachverhalt bis zur obersten Instanz vor den Bundesgerichtshof. Kurz vor Weihnachten kam dann die Überraschung: Die zuständige Haftpflichtversicherung des Narkosearztes stimmte einer Vorabzahlung von 350.000 Euro zu.

Der Familie falle damit eine riesige Last von den Schultern, sagt der Anwalt. Denn die Pflege der im Wachkoma liegenden Tochter sei enorm zeitintensiv und teuer. "Man muss sagen, dass uns die Versicherung letztendlich menschlich sehr entgegengekommen ist", sagt Rechtsanwalt Marc Melzer.

Zwar hatte der Versicherer ursprünglich auf ein "akutes Atemnotsyndrom" als Ursache für das verheerende Sauerstoffdefizit gepocht, ein von der Staatsanwaltschaft beauftragtes Gutachten hatte dem Anästhesisten jedoch bereits Fehler bei der Narkose attestiert.

Darüber hinaus fand der Medizinische Dienst laut Melzer zusätzlich heraus, dass es sich bei den Auffälligkeiten in der Lunge des Mädchens um Folgen eines Sauerstoffdefizites handelte. Das Gutachten hatte der Anwalt der Familie in Auftrag gegeben, woraufhin die Versicherung den Weg für die Vorschusszahlung freimachte, so Melzer.

Mädchen muss rund um die Uhr betreut werden Und wie hat die Familie auf die Nachricht reagiert? "Die Eltern waren völlig gelöst, das nimmt enorm viel Druck vom Kessel", sagt Rechtsanwalt Marc Melzer. Dennoch liege weiterhin ein harter Kampf vor den Angehörigen. Das inzwischen zwölfjährige Mädchen benötige bei Pflegegrad 5 unverändert weiter rund um die Uhr intensive Pflege, was laut Anwalt zu nicht "unerheblichen Schadenspositionen" führe.

Das Mädchen könne nicht mehr selbstständig essen, sitzen oder liegen, geschweige denn lachen, sagte Melzer schon damals beim Strafverfahren auf dem Gerichtsflur. Der Fachanwalt für Medizinrecht hat daher nun ein Pflegegutachten in Auftrag gegeben, um den Ernst der Lage aufzuzeigen. "Das kann sich noch einige Monate hinziehen", sagt er.

Kalkuliert mit 360 Pflegeminuten pro Tag habe Melzer daher für die vergangenen 62 Monate eine Nachzahlung von 125.000 Euro sowie eine monatliche Mehrbedarfsrente von etwa 2000 Euro errechnet. Diese Beträge stehen der Familie aus seiner Sicht zu.

Obwohl der Fall besonders tragisch ist, liegt die Schmerzensgeldgrenze in Deutschland derzeit bei 500.000 Euro. Nach Rechtsprechung des Oberlandesgerichts in Hamm sei an dieser Stelle Schluss, sagt Melzer. Demnach sei es wichtig, realistisch in die weiteren Verhandlungen zu treten, um keine falschen Erwartungen zu wecken und "keine Traumschlösser" zu bauen. Doch durchhalten lohne sich. Auch wenn es leider nichts ungeschehen machen könne.

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