Tod auf dem Zahnarztstuhl: Anästhesist wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht

Nein, mit dem Selbstzweifel hat es Tonio C. nicht so, so viel ist sicher. 74 ist er, ein älterer Herr in dunkelblauer Funktionsjacke, so sitzt er auf dem Platz des Angeklagten vor der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück. Und der Vorsitzende Richter hat seine Frage noch gar nicht ganz zu Ende gestellt, da beginnt C. schon zu erzählen. Über seine Erfahrung, seinen Berufsweg, und vor allem: über seine Kompetenz.

Facharzt sei er, betont C., &bdquo;das klang ja eben nicht so“, eben in der Anklage. Von den Professoren spricht er, bei denen er studiert habe, Koryphäen ihres Fachs. Dann von seiner Zeit als Notarzt am Kamener Kreuz, von seiner ersten Reanimation im Jahr 1974, von den &bdquo;sicher 80.000 Eingriffen“, die er als Anästhesist überblicke. &bdquo;Ich intubiere sicher“, sagt C. und wiederholt diesen Satz später in verschiedenen Variationen, stets mit einem gewissen Stolz.

Was geschehen ist, kann man beschreiben, anhand von Protokollen. Am 4. April 2023, einem Dienstag, fährt die 63-Jährige am Morgen in die Praxis ihres Zahnarztes. Vier Stiftzähne will sie sich setzen lassen, in Vollnarkose. Ute Z. ist gesund, ein unproblematischer Fall, so sieht es auch Tonio C. Zwischen 8.15 Uhr und 8.17 Uhr injiziert er ihr das Narkosemittel und intubiert sie, führt also einen Schlauch zur Beatmung in ihre Luftröhre. Doch offenbar gelangt kein Sauerstoff in ihre Lunge. Wenige Minuten später, die genaue Uhrzeit ist nicht belegt, lässt Tonio C. einen Notruf absetzen.

Anästhesist leitet keine Wiederbelebungsmaßnahmen ein Als um 8.32 Uhr der Notarztwagen eintrifft, ist die Haut von Ute Z. wegen des Sauerstoffmangels tiefblau, so sagen es mehrere Zeugen aus. Ihr Herz pumpt kein Blut mehr. Wiederbelebungsmaßnahmen aber hat Tonio C. nicht eingeleitet. &bdquo;Kollege ist völlig aufgelöst und wiederholt immer wieder ich kann sie nicht beatmen“, notiert die Notärztin in ihrem Einsatzprotokoll, &bdquo;es finden keine Reanimationsmaßnahmen statt.“

Um 8.55 Uhr bringen die Sanitäter Ute Z. ins Krankenhaus. Doch ihr Gehirn war schon zu lange ohne Sauerstoff. Vier Tage später, am Abend des 8. April, stirbt Ute Z., im Beisein ihrer Tochter, im Marienhospital in Osnabrück. Für die Staatsanwaltschaft steht fest, wer für ihren Tod verantwortlich ist. Sie hat Tonio C. wegen fahrlässiger Tötung und versuchten Totschlags durch Unterlassen angeklagt. Wird er verurteilt, drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft.

Der Tod von Ute Z. war eine vermeidbare Tragödie. Vollnarkosen bei ambulanten Eingriffen sind sicher, so betonen es Fachgesellschaften immer wieder. Gleichzeitig jedoch kam es in den vergangenen Jahren mehrmals zu tödlichen Zwischenfällen. Erst Anfang November hat das Landgericht Frankfurt einen 67-jährigen Anästhesisten zu zehn Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, nachdem ein vierjähriges Mädchen während der Narkose gestorben und drei weitere Kinder nur knapp überlebt hatten. Im Sommer sprach das Landgericht Hamburg einen ebenfalls 67-jährigen Narkosearzt schuldig, wegen des Tods eines 18-Jährigen erhielt er ein Jahr und sechs Monate auf Bewährung. In Mannheim starb 2019 eine 42-Jährige nach einer Vollnarkose.

Seit Jahren vermehrt Komplikationen mit Todesfolge bei Vollnarkosen Wie häufig solche Fälle sind, darüber gibt es keine Zahlen. Experten jedoch erkennen in den Fehlern ein Muster. &bdquo;Es kommt leider seit Jahren bei Vollnarkosen bei ambulanten Operationen immer wieder zu Komplikationen mit Todesfolge, bei denen die Standards unseres Fachgebiets dramatisch unterschritten wurden“, sagt Uwe Schulte-Sasse, medizinischer Gutachter und früher Direktor einer Klinik für Anästhesiologie. Das betreffe Kinder wie auch Erwachsene. &bdquo;Die allermeisten dieser Fälle hätten durch konsequente Einhaltung der Leitlinien zuverlässig verhindert werden können.“

Dabei sind Vollnarkosen bei aufwendigen Zahn-OPs ein Segen – bei allen, die die oft langen Eingriffe sonst nicht ertragen würden. Selbst die Bundeszahnärztekammer warnt jedoch davor, sie in Praxen allzu großzügig einzusetzen. Diese seien &bdquo;immer die Ultima Ratio“.

Den Termin für ihre Behandlung hat Ute Z. mit Bedacht gewählt: den Dienstag vor Ostern. Die 63-Jährige war Chemiefacharbeiterin, bei einem Unternehmen in der Region entwickelte sie Klebstoffe für verschiedenste Zwecke. &bdquo;Sie wollte sich über die Feiertage erholen“, sagt ihre Tochter, Alexandra P., die im Prozess als Nebenklägerin auftritt, &bdquo;so gewissenhaft war sie.“ Alle zwei Monate fuhr Ute Z. zu ihr nach England, um ihre beiden Enkelkinder zu sehen. Angst vor Zahnbehandlungen hatte sie nicht, eher schon vor Narkosen, sagt ihre Tochter. Dafür, dass sich ihre Mutter für eine Vollnarkose entschied, gibt es aus ihrer Sicht nur eine Erklärung: Sie muss den Ärzten vertraut haben. &bdquo;Wird schon schiefgehen“, sagt sie zu der Freundin, die sie am Morgen zur Praxis fährt, zum Abschied.

Tonio C. praktiziert für 8.000 Euro netto im Monat Für Tonio C. sind die ambulanten Narkosen vor allem eines: ein lukrativer Verdienst in einem Alter, in dem die meisten anderen längst in Rente sind. Er habe selbst drei Stents am Herzen, leide unter Bluthochdruck, sei nicht mehr so belastbar, räumt er ein. &bdquo;Aber im Alltag geht es.“ 1.500 bis 2.000 ambulante Narkosen mache er noch immer im Jahr. Sein Nettoverdienst? 8.000 Euro im Monat.

Es ist ein verklebtes Ventil, das am Morgen des 4. April 2023 verhindert, dass das Narkosegerät Sauerstoff in die Lunge von Ute Z. pumpt. Aber das wird Tonio C. erst am nächsten Tag klar. An diesem Morgen jedoch entdeckt er den Fehler nicht. Obwohl er ihm bei dem vorgeschriebenen Kurz-Check, den er vor der Narkose auch gemacht haben will, eigentlich hätte auffallen müssen.

&bdquo;Normalerweise hänge ich mich immer selbst einmal an den Sulla“, beteuert C. Ein Sulla 808, das ist das Gerät, eine jahrzehntealte, aber als zuverlässig geltende Maschine. &bdquo;Das habe ich da nicht gemacht. Dafür mache ich mir selbst die schärfsten Vorwürfe.“ Es sind allerdings, so muss man es sagen, offenbar auch die einzigen.

Kette von Fehlern: kein EKG, kein Blutdruckmessgerät, kein CO2-Messgerät Die Anklage hält ihm noch zahlreiche weitere Versäumnisse vor. Eine Kette von Fehlern, die am Ende zum Tod von Ute Z. führt. C. verzichtet auf Sauerstoffgabe vor der Narkose, die Präoxygenierung. Er schließt sie nicht an ein EKG an, nicht an ein Blutdruckmessgerät, nicht an ein CO2-Messgerät. Alle hätten ihm gezeigt, dass der Kreislauf seiner Patientin versagt. Er beginnt auch nicht mit der Wiederbelebung, als das Herz seiner Patientin praktisch nicht mehr pumpt. Sondern drückt ratlos auf den Beutel des Narkosegeräts, der sich wegen des verklebten Ventils nicht füllt. Unter den Zuschauern im Gerichtssaal sind Sanitäter in Uniform. Sie schütteln manchmal stumm den Kopf.

Tonio C. hat für alles eine Erklärung. Die Sauerstoffgabe? &bdquo;Hat die Patientin abgelehnt“, behauptet er. Das fehlende Monitoring? Nicht nötig, mache er bei der Einleitung nie, sie sei ja zuvor gesund gewesen. Außerdem sei es ja schwierig, Elektroden bei Zahnarztpatienten anzubringen. &bdquo;Die haben ja kein OP-Hemd an“, belehrt er das Gericht. Keine Reanimation? Das wäre ja eine &bdquo;Laienreanimation“ gewesen, so sagt er es tatsächlich, schließlich sei außer ihm nur seine Assistentin im Raum gewesen.

Was daran laienhaft sein soll, wenn ein Anästhesist und eine medizinische Fachangestellte zusammen eine Wiederbelebung beginnen, diese Erklärung bleibt Tonio C. schuldig. Aber seine letzte Reanimation, räumt C. ein, liege auch schon 30 Jahre zurück. Der Zahnarzt selbst fiel dann auch als Helfer aus. Beim Anblick der Patientin erlitt er einen Schock. Er sei nicht mehr handlungsfähig gewesen, so ergaben es die Ermittlungen.

Anästhesist leugnet Blaufärbung der Patientin Die Blaufärbung, das Zeichen des Sauerstoffmangels, leugnet C. schlicht. &bdquo;Ich weiß, was blau ist. Ich habe auch schon einen Patienten gehabt, der war schwarz, der hatte sich angezündet“, erklärt er dem Gericht. &bdquo;Aber sie war blass“, insistiert er. Die Tochter der Toten sitzt ihm nur wenige Meter entfernt gegenüber. Aber das sorgt nicht dafür, dass es Tonio C. gelingt, den richtigen Ton zu treffen.

&bdquo;Es besteht nach den bisherigen Ermittlungen der dringende Verdacht, dass Tonio C. grundlegende Kontrollmechanismen von Beginn an ignoriert hat“, erklärt Lutz Böttger, Fachanwalt für Medizinrecht und Nebenklagevertreter der Tochter, &bdquo;und dass er dann, als dies längst nötig gewesen wäre, weder eine manuelle Beatmung noch eine Reanimation vorgenommen hat.“

Es gibt jedoch noch etwas, das er und seine Mandantin mindestens rätselhaft finden: dass Tonio C. bis heute weiter als Anästhesist praktiziert. Schon am folgenden Tag, so sagt er im Gericht, habe er die nächsten Narkosen vorgenommen. Bis heute sei er aktiv.

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Dieser Auffassung widerspricht Tim Neelmeier, Vorsitzender Richter am Landgericht Itzehoe, jedoch entschieden. &bdquo;Dass die Behörde in einem solchen Fall die Approbation nicht zumindest vorläufig entzieht, ist aus meiner Sicht unfassbar“, erklärt der Experte für Medizinrecht. In diesem Fall wäre der Entzug nicht nur rechtlich möglich. &bdquo;Er wäre als Gefahrenabwehrmaßnahme, um ähnliche Fälle in Zukunft zu verhindern, sogar geboten.“

Für Neelmeier steckt auch darin ein Muster: Staatsanwaltschaften wie auch Approbationsbehörden fehle zumeist das Bewusstsein dafür, die Fehler von Ärzten richtig zu bewerten. &bdquo;Die Hemmschwelle gegenüber Ärzten und ihren Fehlern“, erklärt Neelmeier, &bdquo;ist in diesen Fällen zu hoch.“

Für Alexandra P., die Tochter von Ute Z., ist das eine ernüchternde Erkenntnis. &bdquo;Ich hätte vieles von dem, was jetzt passiert ist, in Deutschland nicht für möglich gehalten“, sagt sie. Ihr gehe es jetzt darum, zu erfahren, was in den entscheidenden Minuten in der Zahnarztpraxis geschehen ist. Auch wenn sie ahnt, dass sie es wohl nicht verstehen wird.

Der Prozess gegen Tonio C. wird im Januar fortgesetzt. Ein Urteil könnte bereits am Ende des Monats erfolgen.

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