Zum Welt-Down-Syndrom-Tag am 21. März veröffentlichen wir diese bewegende Geschichte von Jürgen Benz heute erneut. Der Artikel ist vom 31. März 2023.
Kreis Lippe. Es ist ein besonderer Tag, ja, ein Freudentag, obwohl es doch um Abschied geht. Es gibt Kuchen und Schnittchen zu Ehren von Jürgen Benz. Und Geschenke, für ihn und die Gäste. Seine Schwester Ursula Resack hat alles perfekt organisiert. Der 65-Jährige hat seinen letzten Arbeitstag im Johannettental. Mehr als 40 Jahre hat er bei der Lebenshilfe gearbeitet. Ein Kind der ersten Stunde in der Sonderschule des vor 60 Jahren gegründeten Vereins. Viele nennen ihn scherzhaft „Unseren Jürgen, den Bürgermeister von Schötmar". Von diesem Samstag an ruht sein Amt. Er ist Rentner.

Jürgen ist bestens gelaunt. Er strahlt und umarmt die Gäste – auch die Reporterin. Er hat Trisomie 21. Distanz kennt er nicht, verteilt Küsse auf die Wange, immer wieder. Das soll wohl heißen: Willkommen, ich freue mich, dass Du da bist. Am Ehrentag sind viele Wegbegleiter erschienen: Der ehemalige Werkstattleiter Jochen Kotzenberg und Kerstin Schwabe-Karsten sind zwei davon. Edgar Kirsch, der Gruppenleiter, ist ja sowieso da. Den mag Jürgen besonders.

Er ist ein Charmeur
Sein Alter sieht man ihm nicht an, vielleicht, weil er Trisomie 21 hat und sich so kindlich-unbefangen verhält. „Er ist einfach ein Charmeur", sagt Kerstin Schwabe-Karsten: „Jürgen mag jeden – und jeder mag Jürgen." Ein Mensch mit einer blühenden Fantasie, so beschreibt ihn Schwabe-Karsten, in dessen Gruppe Jürgen beschäftigt war. Sie lacht, als sie sich an ein Reise nach Berlin erinnert: „Er hat den ganzen Tisch unterhalten. Es war zur Bundestagswahl, und er hat allen Tischnachbarn einen Ministerposten gegeben." Als Aufbruch war, habe er sich gar nicht bremsen lassen – er habe unbedingt noch feiern gehen wollen.

Damals konnte Jürgen noch verständlich sprechen. Doch seit einem Schlaganfall vor 20 Jahren ist seine Aussprache undeutlich. „Danach hat er zunächst stark abgebaut. Aber er hat sich berappelt. Und 2020 waren wir im Harz, da hat er von Torfhaus aus sogar den Brocken bestiegen", sagt Jochen Kotzenberg anerkennend. Mehr als 1000 Höhenmeter galt es zu besteigen. Jürgen hat den Weg gemeistert. Und Kotzenberg ist mächtig stolz: „Ich bin froh, dass wir es gewagt haben."

Die Lebenserwartung von Menschen mit Trisomie 21 liegt nur bei etwa 60 Jahren, der älteste starb laut Wikipedia mit 83. Jürgen dagegen ist ein Phänomen und das beste Beispiel dafür, was Menschen mit Trisomie 21 leisten können. Und dass ein Leben mit „Downies" bereichernd ist und wundervolle Erlebnisse beschert. Jochen Kotzenberg betont das, während er sich lächelnd an all die schönen Momente mit Jürgen erinnert.Ein Kind mit Trisomie 21 zu gebären, ist heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Pränataldiagnostik spürt den Gendefekt auf und stellt Mütter vor die Entscheidung: Abtreiben oder austragen? Als Jürgen auf die Welt kam, gab es diese Untersuchungen nicht, Mütter nahmen ihre Kinder an, wie sie waren. Zum Glück, möchte man sagen, was wäre der Welt entgangen?
Jürgens Schwester Ursula Resack erinnert sich gut: Sie waren auf dem Feld, die Mutter und die drei Kinder, darunter die Älteste, die neunjährige Ursula, und die beiden kleinen Brüder, zwei und drei Jahre alt. Plötzlich zog ein Gewitter auf. Sie mussten zurück ins Haus. Und dann ging alles ganz schnell – eine Sturzgeburt. Es war der 16. April 1957. Der kleine Jürgen erblickte das Licht der Welt.
Winzig klein und ganz zart
Klein, ja, daran kann sich Ursula Resack (75) gut erinnern, winzig klein sei er gewesen, ganz zart. Dass Jürgen, der Viertgeborene, anders war als seine Geschwister, erfuhren die Eltern erst zwei Jahre später. Bis dahin, sagt sie, sei ihre Mutter davon ausgegangen, dass Jürgen „mit allem eben etwas spät war".
Noch hieß die Krankheit Monogoloismus. Heute ein Unwort, eine rassistische Verunglimpfung; beschreibt es doch die besonderen äußeren Merkmale von Kindern mit Down-Syndrom wie sie sich auch beim Volksstamm der Mongolen finden– schräg gestellte Augen und eine flache Nasenwurzel.
Ursula Resack dagegen war vielmehr erschrocken, als sie später erstmals den Ausdruck „Downies" hörte – denn „unten" waren Menschen wie ihr jüngerer Bruder Jürgen ihrer Erfahrung nach ganz und gar nicht. Aber das Down-Syndrom geht auf John Langdon-Down zurück, der 1866 als erster über die Krankheit schrieb. Die Erklärung beruhigte sie.
1959, als Jürgens Eltern die Diagnose erhielten, gab es keine ärztliche Aufklärung darüber, was dem Sohn eigentlich fehlt – oder besser gesagt, was er zu viel hat: „Er braucht mehr Liebe und Zuwendung als andere Kinder, dann wird es schon werden", habe der Kinderarzt damals gesagt.
Warum werden wir so gestraft?
„Heute ist es kaum vorstellbar, mit welchen Gedanken und Vorurteilen sich unsere Eltern der Vorkriegsgeneration quälten: Warum bekommen wir so ein Kind? Was haben wir getan, dass wir so gestraft werden? Auch Aberglaube spielte eine Rolle", erinnert sich Ursula Resack. Die Nachbarn tuschelten. Die Eltern verstanden nicht – und fühlten sich allein gelassen. Beinahe mit Erleichterung hätten sie gesehen, dass die Frau eines angesehenen Chefarztes in der Nachbarschaft wenig später ebenfalls ein „mongoloides" Kind gebar. Es war also doch kein Phänomen der einfachen Leute, keine Strafe Gottes!
Aber wie sollte es mit Jürgen weiter gehen? Die Lebenshilfe habe es noch nicht gegeben, ebenso wenig sei die Pädagogik nach Maria Montessori oder Marianne Frostig einfachen Leuten ein Begriff gewesen. Welch ein Glück, dass zwei Jahre nach Jürgen noch eine kleine Schwester geboren wurde! Als die in den Kindergarten Schötmar gekommen sei, habe Leiterin „Tante Lotte" ihrer Mutter gesagt, der Jürgen solle einfach mitkommen. So pragmatisch funktionierte Inklusion.
Eingeschult wurde Jürgen in die neu gebaute Sonderschule Schötmar. Doch dort kam er nicht zurecht, wurde von Kameraden gehänselt. „Uns Geschwistern fiel es nicht immer leicht, unseren kleinen Bruder zu verteidigen. Manchmal haben wir uns auch geschämt. Ich habe sogar mal einen Jungen auf dem Schulhof verprügelt, weil er sich über Jürgen lustig machte", sagt Ursula Resack.
Nach Gründung der Lebenshilfe vor 60 Jahren war Jürgen einer der ersten Nutznießer. Er sei damals als eines von fünf Kindern in der Lebenshilfe Lemgo aufgenommen und mit dem Taxi vom Elternhaus in Schötmar nach Lemgo in die Stiftstraße gebracht worden. Ursula Resack: „Das machte die Nachbarn wieder sprachlos. Wer fuhr in den 60er Jahren denn schon Taxi?"
Nach kurzer Zeit sei er an die Schule der Lebenshilfe Lemgo in Leese gewechselt und habe dort seine gesamte Schulzeit verbracht. Dort fühlte er sich wohl: „Das Personal war professionell und förderte jedes Kind individuell. Jürgen begegnete allen Menschen freundlich und aufgeschlossen. Noch heute kennt er Namen der damaligen Lehrer, zum Beispiel Herrn Pott", sagt seine Schwester.
1980 verließ er die Schule, im Abschlusszeugnis steht, er sei hilfsbereit und kontaktfreudig, bei der Arbeit aufgeschlossen und recht selbstständig. Gut sind seine Fertigkeiten in Werkzeug- und Metallkunde, im hauswirtschaftlichen Bereich. Ab 1. August arbeitete er im Gärtner-Trupp im Freilichtmuseum: „Mit seinen Kollegen hat er die Gärten ordentlich gehalten, das hat ihm sehr viel Spaß gemacht", weiß Ursula Resack. Jochen Kotzenberg ergänzt, dass das eine ganz besondere Situation gewesen sei: „Er hatte seinen Garten, den er pflegte. Besuchern hat er mit stolz geschwellter Brust alles genau erklärt."
Erinnerungsfotos aus jener Zeit hängen über seinem Bett im ersten Stock des Reihenhauses, in dem er mit seiner Schwester seit vier Jahren lebt. Eins zeigt Jürgen neben einem kräftigen Mann, der in die Kamera strahlt – sein Schulfreund Günter Seliger. Ihn habe er nie vergessen können. Erst vor ein paar Jahren begegneten sich die beiden wieder. Ursula Resack lacht: „Er ließ nicht locker. Über einen Facebook-Aufruf haben wir herausbekommen, dass Günter in Lemgo in einer Wohngemeinschaft lebt." Es gab ein fröhliches Wiedersehen und zum Abschied das Foto – und das Versprechen, sich bald mal wieder zu treffen.
Besondere Momente
Es sind diese besonderen Momente im Leben ihres Bruders, die auch Ursula Resack viel geben. Ihre eigenen drei Kinder sind längst flügge, sie leben mit ihren Familien und den sieben Enkeln weit weg. Die Wahl-Detmolderin, die erst in späteren Jahren ihre Ausbildung zur Sozialpädagogin machte und selbst mit 60 bei der Lebenshilfe anfing zu arbeiten, hat ein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder. Sie bietet schon seit etlichen Jahren zusammen mit Jochen Kotzenberg Reisen für Menschen mit Beeinträchtigungen an. Und auch Jürgen ist mit dabei, wenn es zum Beispiel in den Harz geht, oder an die Nord- und Ostsee.
Immer wieder kommt es dabei zu tollen Begegnungen: Zum Beispiel, als Jürgen sich auf Norderney, obwohl er nicht lesen kann, ein Buch über den Leuchtturm kauft – und zufällig die Autorin trifft, die ihm eine Widmung hinein schreibt.
„Manchmal ist Jürgen weiser als ,normale Menschen", sagt seine Schwester, und man hört den Stolz in ihrer Stimme. Dann deutet sie auf ihre Halskette, öffnet ein Amulett, in dem sich ein Foto eines kleinen lächelnden Jungen mit mandelförmigen Augen verbirgt. Jürgen Benz. Ach, was wäre ihre, was wäre die Welt ohne den „Bürgermeister von Schötmar"?
50.000 Menschen mit Down-Syndrom
Dass ein zusätzliches Chromosom Jürgen so besonders machte, war 1957 noch nicht bekannt, erst 1958 machte die französischen Ärztin und Wissenschaftlerin Marthe Gautier die Entdeckung: Ein Junge mit Down-Syndrom hat 47 statt 46 Chromosomen! Etwa zwei Jahre darauf hatten die Forscher endlich Gewissheit, welches Chromosom betroffen war: Das 21. war bei den Patienten dreimal vorhanden.
Weltweit tritt das Down-Syndrom (DS) laut National Library of Medicine bei etwa 1 von 800 Geburten auf. In Deutschland leben schätzungsweise 50.000 Menschen mit Trisomie 21, in den USA über 200.000. Die Zahl der Neugeborenen mit Trisomie 21 stieg lange Zeit mit der Zahl der Spätgebärenden. Die Pränataldiagnostik führt jedoch dazu, dass neun von zehn Schwangeren lassen hierzulande nach Expertenschätzungen bei einer Trisomie einen Abbruch machen, schreibt die Ärztezeitung. Und das, obwohl die Babys mit dieser Erbgutstörung dank des medizinischen Fortschritts bessere Lebenschancen als je zuvor haben.